Im süditalienischen Riace wurden verlassene Häuser zu Wohnzimmern von Vertriebenen. Was für eine Vision hatte der Bürgermeister der Gemeinde und warum drohen ihm und seinen 17 Mitstreitern hohe Strafen? 

TOM SOLBRIG, freier Autor

»Es ist nicht unwahrscheinlich, dass eines Tages die Guardia di Finanza kommt«, sagt Salvatore Del Giglio, Präfekturbeamter, am 17. Juli 2017 im Gespräch mit dem Bürgermeister der Gemeinde Riace, Mimmo Lucano, abgehört durch eine von fünf Wanzen, zwei waren in Lucanos Auto, zwei in der Zentrale seines Vereins Città Futura, die fünfte in seinem Büro.

Dann erklärt Del Giglio: »Die staatliche Verwaltung will nicht, dass die Geschichte von Riace Wirklichkeit wird… Ich bin mir sicher, dass die Organisation von allen Seiten durchnässt ist. Nicht zuletzt die Tatsache, dass es nach dem SPRAR (Schutzsystem für Flüchtlinge in Italien, heute: SIPROIMI) nichts mehr gibt.« Lucano fragt: »Warum muss Riace zahlen?« Del Giglio antwortet: »Der Fall von Riace in Italien ist in gewisser Weise atypisch, weil es nirgendwo sonst eine Duplikation gibt.« 2021 wurde Lucano in erster Instanz der kriminellen Verschwörung, des Betrugs, der Veruntreuung, der Fälschung und des Amtsmissbrauchs zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt.

Die Gemeinde ist der Öffentlichkeit seit 1998 bekannt, als sie zahlreich politisch verfolgte Kurden und später Geflüchtete und Migranten von überall aufnahm. Riace wurde zum Vorbild für Kommunen weltweit, weil die lokalen Strukturen trotz der prekären Verhältnisse eine Aussicht auf Unterkunft, sinnvolle Arbeit und Aufenthalt erlaubten. Das inspirierte den deutschen Starregisseur Wim Wenders so sehr, dass er 2009 den Film »Il Volo« (Der Flug) drehte und der Mitinitiator der Utopie, Lucano, 2004 bis 2018 Bürgermeister den »Dresdener Friedenspreis« 2017 bekam. Selbst der Papst würdigte Lucanos Integrationsprojekt. Das US-amerikanische Magazin Fortune zählt ihn zu den 50 einflussreichsten Menschen weltweit.

Doch der Wind des »Dorf des Willkommens«, in dem es eine eigene Währung gab, weil staatliche Gelder zu spät eintrafen, wendete sich, als gegen das Modell ermittelt wurde: »Im Oktober 2017 wurde ich von der Staatsanwaltschaft Locri als Beschuldigter registriert«, erinnert sich Lucano: »Die Anklage lautete besonders schweren Betrugs zum Zwecke der Erlangung öffentlicher Mittel zum Schaden des Staates und der EU, und weiter auf Erpressung im Amt als Missbrauch. Zusätzlich zur Benutzung der regionalen Banknoten wurde mir vorgeworfen, dass ich die 35 Euro, die wir pro Tag und Flüchtling vom Staat für dessen Versorgung genehmigt bekamen, für Arbeitsstipendien verwendet hatten, die eine wahre Integration erlaubten.« Es wurden 700.000 Euro Projektgelder zurückgefordert und 17 Mitstreiter für mitschuldig gesprochen. Kurz nach Urteilsspruch, als seine deutsche Autobiografie erschien, verteidigte er in nationalen Talks seine Utopie mit der barmherzigen Umdeutung dessen, was er falsch machte und ihm der Richter als betrügerische Bereicherung auslegt. Mittlerweile ist die Gemeinde mit seinen Wanderwegen am Dorffuß zum sichtnahen Mittelmeer unter einem rechten Bürgermeister gespalten.

Die Gemeinde Riace wirkte international wie ein Wolkenkuckucksheim in Zeiten der restriktiven Einwanderungspolitik Kalabriens, Italiens, Europas und der Internationalen Gemeinschaft. Fotos: Tom Solbrig

Die Einwohnerzahl in Riace ist wieder bei 2.000. Die 800 Zugewanderten wurden vertrieben. Die von Migranten bewohnten und sanierten Steinhäuser der Erben von verstorbenen Besitzern sind leer. Und das, obwohl zahlreiche Boote vorwiegend mit Afghanen Kalabrien erreichen. Von da landen einige in die Aufnahmezentren als billige Arbeitskräfte für die Ernte. Nach Angaben des italienischen Landschaftsverbands Coldiretti kommen jährlich 370.000 Saisonkräfte nach Italien.

War die Aufnahme von Zugewanderten auch ein Mittel zur eigenen Rettung der Gemeinde? Nicht nur das, denn viele fanden in Riace zum Leben zurück, wie Becky Moses. Sie konnte nicht nach Nigeria zurückkehren und war nach ihrer Ankunft aus Libyen in Italien 2015 in der Prostitution, um ihre Schulden bei den Schleusern zu begleichen, bis sie es nach Riace schaffte. Als 2017 die Ablehnung ihres Asylantrags jedem Traum ein Ende setzte, war Becky ohne Heimat, Familie, Geld. Ihr blieb nichts anderes als das Lager in San Ferdinando der »lebenden Leichname«, wie es die Philosophin Hannah Arendt bezeichnen würde. Fast hätte es Becky erneut geschafft, wenn nicht 2018 ein Feuer in der Zeltstadt sie verbrannte. Nur eine Stimme trauerte öffentlich um sie: Lucano. Nach der Ablehnung ihres Asylantrags durfte er sie nicht in seine Gemeinde aufnehmen. In der Berufung fordert der Staatsanwalt mehr als zehn Jahre Haft, der Lucano vorwiegend anlastet für die Genehmigungen von Langzeitaufenthalten, der »Permesso di lungo periodo«. Bis zum Urteil im Oktober wollen Lucanos Anwälte hingegen sein einziges Motiv beweisen: Aufnahme und Integration.

Nachtrag: Am 12. Oktober 2023 sprach das Gericht Lucano in zweiter Instanz frei. Eine Mitstreiterin Lucanos, die den gesamten Ermittlungsprozess verfolgte, sagte anschließend, dass alle erleichtert seien, aber auch besorgt sind, wie es nach der Zerstörung des Willkommensdorfes weitergeht.

Hinweis: Die Recherchen des Themas der Reportage berufen sich auf die wissenschaftliche Vorlesung zu »Solidarity Cities« und die Befragungen im Oktober 2021 und April 2022 als der Autor in Riace war sowie auf ausgewählte Medien und Literatur und können angefragt werden.
Aus Riace genießt derzeit der Autor das Olivenöl. Die Gemeinde war zudem Zufluchtsort des Autors vor den Städten Italiens.
Kontakt: solbrigt[at]uni-hildesheim.de

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