DISKUSSION TOM SOLBRIG, freier Autor

Der sudanesisch-US-amerikanische Rechtswissenschaftler Abdullahi Ahmed An-Na’im im Interview.

»Das Menschenrechtssystem ist nur dazu da, dass die westlichen ehemaligen Kolonialstaaten ihre imperiale Hegemonie über den globalen Süden aufrechterhalten können« – ABDULLAHI AHMED AN-NA’IM

Abdullahi Ahmed An-Na’im war von 1993 bis 1995 Direktor von African Watch, ist Autor von »Decolonizing Human Rights« (2021), emeritierter Professor für Recht an der Emory University in Atlanta und Schüler des wegen Apostasie angeklagten und 1985 gehängten, sudanesischen Reformdenkers Mahmud Muhammad Taha. Dieser vertritt 1967 in seinem arabischen Hauptwerk: »The Second Message of Islam«, das An-Na’im 1987 ins Englische übersetzte, die Vorstellungen von einer Erneuerung des Islams, die ihm von Allah offenbart worden sei. Tahas Titel ist provokant: Nach islamischen Verständnis ist die Offenbarung mit dem Propheten Mohammed beendet, daher kann es keine »zweite Botschaft« geben. Die Hauptthese von Taha zur Entwicklung des islamischen Rechts fasst An-Na’im im Vorwort so zusammen: Der Islam, der nach muslimischem Glauben die endgültige und universelle Religion ist, wurde zuerst in toleranter und egalitärer Hinsicht in Mekka angeboten, wo der Prophet Gleichheit und individuelle Verantwortung zwischen allen Männern und Frauen ohne Unterschied aus Gründen der race, des Geschlechts oder der sozialen Herkunft predigte. Da diese Botschaft in der Praxis abgelehnt wurde und der Prophet und seine wenigen Anhänger verfolgt und gezwungen wurden, nach Medina auszuwandern, änderten sich einige Aspekte der Botschaft als Reaktion auf die sozioökonomischen und politischen Realitäten der Zeit. Das historische islamische Scharia-Gesetz, wie es den Muslimen heute bekannt ist, basierte auf Texten der zweiten Stufe. In der Medina-Phase reagierte Gott durch den Propheten im Koran und in der Sunna auf die potenziellen und tatsächlichen Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft in dieser Phase ihrer Entwicklung. Zu diesem Zweck wurden einige Aspekte der früheren Offenbarungsebene und der Sunnah aus rechtlicher Sicht aufgehoben, obwohl sie auf moralischer und überzeugender Ebene wirksam blieben.

An-Na’im bezeichnet sich als praktizierender Sufi im Sinne Tahas. An-Na’im erzählt, dass nach Tahas Verständnis ein wahrer Sufi jemand sei, der sich in allen sozialen und politischen Aktivitäten engagiert; in der Nacht bereite sie oder er sich durch spirituelle Praktiken auf das Leben in der Welt vor. Denn menschliche Beziehungen seien für Taha die wichtigsten Werte gewesen, dessen Haus ein ständiges Netz von Aktivitäten war, „um seine Ideen zu verbreiten, jeden Tag in seinem Leben“.

Sie haben sich viel mit der Dekolonialisierung von Menschenrechten im Allgemeinen beschäftigt. Worauf konzentrieren Sie sich mit Blick auf die Menschenrechte von Flüchtenden?
AN-NA’IM: Erstens sollten wir uns darauf konzentrieren, die Bedingungen zu bekämpfen, die Flüchtende dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Das erfordert eine ernsthafte Beschäftigung mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten sowie den bürgerlichen und politischen Menschenrechten. Auf dieser Ebene liegt das Versagen bei der internationalen Gemeinschaft im Allgemeinen, insbesondere bei den großen ehemaligen Kolonialmächten USA und Westeuropa und den Mitgliedern des Sicherheitsrates, einschließlich China. Alle Waffen, die in internen Konflikten im globalen Süden eingesetzt werden, und das Geld, um diese Waffen zu bezahlen, kommen aus dem globalen Norden.  

Zweitens müssen wir uns beim Umgang mit Flüchtenden auch auf die Menschenrechte als Rechte aller Menschen konzentrieren und nicht nur auf die Bürgerrechtsnormen in den entwickelten Ländern. In diesem Punkt werfe ich den westeuropäischen Staaten und den USA vor, dass sie bei der Wahrung der Menschenrechte von Flüchtenden versagt haben, z. B. indem Großbritannien die Verpflichtungen des Landes zur Wahrung der Rechte von Flüchtenden an Ruanda weitergegeben hat. Das eigentliche Problem besteht darin, dass im eigenen Land politischer Druck ausgeübt wird, »die Flüchtende loszuwerden«. Menschenrechte sind dazu da, Randgruppen wie Flüchtende zu schützen, und zwar immer und überall und nicht nur, wenn es gerade passt.

Was sind ostafrikanische und islamische Perspektiven auf Mobilität und Flucht, um das westliche Konzept von Migration zu dekolonisieren? Alassane Dicko von der Assoziation »Der Abgeschobenen Malis« prägt den Begriff der zirkulären Migration als notwendige Entwicklungs- und Überlebensstrategie westafrikanischer Gesellschaften. In der islamischen Welt ist das Verhältnis ambivalent: Einerseits warnt ein populäres Sprichwort in Damaskus, wer seine Heimat verlasse, mindere seinen Wert. Andererseits bezeichnet »Ahlanwasahlan« den guten Umgang mit Fremden. Bereits in der vorislamisch-arabischen Kultur wurden diejenigen gepriesen, die Fremden gegenüber Freundlichkeit und Großzügigkeit zeigten, mit dem Titel ma‘wā al-gharīb – Zuflucht des Fremden.
Die Bewegung der Bevölkerung ist so alt wie die Menschheit auf der Erde und wird bis zum Ende der Zeit andauern. Menschen sind schon immer umgezogen und werden es auch weiterhin tun, um zu überleben und der Gewalt zu entkommen. Was wir heute als »politische Flüchtlinge« bezeichnen, ist das Produkt europäischer »Nationalstaaten« mit festen Grenzen. Die Definition des Begriffs »Flüchtling« basiert auf dem Konzept des Territorialstaats mit geschlossenen Grenzen. 

Sie sind seit vielen Jahren als Menschenrechtsaktivist in verantwortlicher Position tätig. Sie haben viel zu diesen Themen veröffentlicht. In welchem Zusammenhang sehen Sie den Begriff »globale Gerechtigkeit« mit Staatenlosen? Migration wird im westlichen Diskurs vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Genfer Flüchtlingskonvention, der Bekämpfung von Fluchtursachen und der geregelten Migration angesprochen.
Ich war zwei Jahre lang Direktor von African Watch (heute Teil von Human Rights Watch) und bin zurückgetreten, weil ich mit dem damaligen Präsidenten von Human Rights Watch in ähnlichen Fragen uneins war. Meiner Ansicht nach erfordert globale Gerechtigkeit globale Lösungen, aber das derzeitige Menschenrechtssystem ist nur dazu da, dass die westlichen ehemaligen Kolonialstaaten ihre imperiale Hegemonie über den globalen Süden aufrechterhalten können. Dies nenne ich »Menschenrechtsabhängigkeit« im meinem Buch »Decolonizing Human Rights«.

Bei der globalen Gerechtigkeit geht es darum, das Selbstbestimmungsrecht aller Völker überall zu respektieren, und zwar in allen Bereichen, in denen wir mit ihnen zu tun haben (Handel, Umwelt, Friedenssicherung), und nicht nur auf internationalen Konferenzen und in Reden vor dem Menschenrechtsrat in Genf. Auf konkrete Situationen angewandt, bedeutet Selbstbestimmung das Recht der Völker, das Recht für sich selbst zu definieren, einschließlich der Menschenrechte, und nicht, dass ehemalige Kolonialmächte bestimmen, was Menschenrechte für die ganze Welt bedeuten.

Das ist ein interessanter Punkt: Wodurch wären Vertriebene und Staatenlose weniger menschenrechtsabhängig und ihre Lebensbedingungen dementsprechend besser? Ich erinnere mich, dass Sie den westlichen Rechtsimperialismus schon in Ihrem Artikel 2013 mit dem Titel: »From the Neocolonial ‘Transitional’ to Indigenous Formations of Justice« kritisieren. Welcher Weg liegt vor uns, wenn nicht ehemalige Kolonialmächte bestimmen, was Menschenrechte für die ganze Welt bedeuten?
Ich bin bestrebt, dass jeder zu Wort kommt bei der Definition dessen, was globale Gerechtigkeit ist. Wenn ich also dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) kritisch gegenüber stehe oder der Situation in Darfur, dann erhebe ich Einspruch gegen die Tatsache, dass in diesem Kontext keine Rücksicht auf Ressourcen von Gerechtigkeit der lokalen Gemeinschaften genommen wird. Ich behaupte nicht, dass individuelle Verantwortlichkeit schlecht ist, sondern ich sage, dass die Menschen, die die Subjekte in diesem Konflikt sind, die in den Deportations- und Flüchtlingslagern leiden, dies sollten die Menschen sein, die über ihre eigenen Prioritäten hinsichtlich dessen, was Gerechtigkeit für sie ist, entscheiden sollten. Der Prozess sollte nicht über die so genannte »internationale Gemeinschaft« laufen, die eine Definition von Gerechtigkeit entwirft, sei diese nun redistributiv oder distributiv. Wir sollten daher damit beginnen, die betroffenen Menschen zu ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit und ihren Prioritäten zu befragen.

Welche Möglichkeiten bieten offene Grenzen oder andere migrationspolitische Kontexte in Afrika? 
Offene Grenzen sind in Afrika notwendig und möglich, zumindest auf regionaler Ebene (Ost, West, Zentral) aufgrund der Schwäche der willkürlichen kolonialen Staatsbildung, die die soziologischen und wirtschaftlichen Interessen der lokalen Bevölkerung nicht berücksichtigt hat. 

Ist ein Mittelmeerraum mit offenen Grenzen, wie mit einer Fähre von Tripolis nach Palermo, gerechter?
Warum sollte man die Diskussion auf das »Mittelmeer« beschränken, anstatt sich mit der allgemeinen Problematik der Flüchtende zu befassen? Ich glaube nicht, dass irgendeine regionale Lösung gut genug ist, und betone, dass die Ursachen des Konflikts vor Ort gelöst werden müssen, um die Notwendigkeit der Flucht von Flüchtenden zu verhindern, anstatt zu versuchen, die Probleme der Flüchtlingslager zu lösen.

Welche Auswirkungen hat die Grundthese in »Die zweite Botschaft« von Taha auf das Recht nach globaler Freizügigkeit?
Die »Zweite Botschaft« hat das POTENZIAL, hervorragende Auswirkungen auf die globale Freizügigkeit zu haben, aber alles, was ich tun kann, ist, Tahas Ideen weiter zu fördern, wie lange es auch immer dauern mag. Das ist es, was Taha zu sagen pflegte: »Konzentriere dich auf deine eigene unmittelbare Verpflichtung, ungeachtet der Aussichten auf kurzfristigen Erfolg.«

TRANSPARENZ: DIE DISKUSSION FAND PER MAIL STATT UND IST ÜBERSETZT AUS DEM ENGLISCHEN

Zum Beitragsbild: Die Schwierigkeit der Philosophien, Tom Solbrig, 2019, 200×120, Acryl und Pastellkreide auf Leinwand
Kontakt: solbrigt[at]uni-hildesheim.de