NoBorder. NoProblem (NBNP) ist ein kleines, bis zu den Grenzen Südeuropas organisiertes Netzwerk, das 2017 gegründet wurde. Das Netzwerk regt zum migrantisch-aktivistischen Perspektivwechsel an, wodurch eigene Handlungsmöglichkeiten entdeckt werden – durch aktive (Solidarity-Kitchen-)Hilfe in Fluchtkorridoren und Pufferzonen an den Grenzen oder lokalen Aktionen im Basiskollektiv – zur Unterstützung und Selbstbestimmung von Reisenden, Migrierenden, Flüchtenden, selbstorganisierten Geflüchteten und Menschen mit Einwanderungsgeschichte.

Beteiligt sind vor allem Engagierte, Aktive und BasisaktivistInnen in Hildesheim, mit Kontakten zu NGOs – regional, überregional und an den Grenzen Europas. Programmatisch verfolgt NBNP zwei Zielsetzungen: Einerseits unterstützen wir besonders in Menton-Ventimiglia mit Kesha Niya Flüchtende in ihren Kämpfen um gleiche Rechte und Bewegungsfreiheit. Andererseits sind wir hierzulande an einer kritisch-aktivistischen Migrations- und Grenzregimeforschung interessiert. Dabei geht es sowohl um Korridore auf Fluchtrouten, eine differenzierte öffentliche Debatte über Migration, die Migration als Normalität und Chance bewertet, »Urban Citizenship« als auch Sans Papiers, Flüchtlingsselbstorganisationen, Frauen- und Gendergewaltschutzanalyse, Bleiberecht, »Solidarity Cities«, sichere Häfen, Grenzregime, Fluchtursachendiskurs, koloniales Erbe und einer selbstbestimmten Entwicklung. Denn nicht minder wichtig, ist das Recht zu bleiben, also die Möglichkeit zu Hause bzw. im Herkunftsgebiet ein Leben unter sicheren, würdigen und selbstbestimmten Bedingungen führen zu können.

Karte mit den Fluchtrouten von Afrika und dem Nahen Osten nach Europa.
Transborder Summercamp: Im Juli 2019 trafen sich 500 Aktivist*innen des Transborder Summercamps in Nantes, transnationaler zusammengesetzt denn je, mit Gruppen quer durch Europa und aus zahlreichen afrikanischen Ländern. Zentrales Thema: Korridore der Solidarität. Oder konkreter: der Auf- und Ausbau von Infrastrukturen entlang aller Routen der Flucht und Migration. Mit Rettungsschiffen und Alarm Phones, mit angemieteten Rasthäusern, besetzten Zentren und sozialen Treffpunkten, mit Beratung im Transit und multilingualen Info-Leitfäden;
Redaktion: S. Thunemann; Grafik: P. Zimmer, Cicero

Mittlerweile verteilen sich die Aktivitäten von NBNP auf (mindestens) sechs Schwerpunkte – trotz des Umstandes, dass es sich weiterhin um ein eher kleines, rein ehrenamtlich getragenes Netzwerk handelt. Unsere sechs Leitsterne sollen aufzeigen, dass alle Menschen unabhängig von Vorkenntnissen, Alter, Geschlecht und Beruf Unterstützung leisten können:

NBNP unterstützt vorwiegend den Aktivismus an den europäischen Innengrenzen. Spätestens als sich im September 2015 mehrere tausende Menschen vom Budapester Hauptbahnhof zu Fuß auf den Weg Richtung Österreich gemacht haben, dämmerte es der europäischen Öffentlichkeit insgesamt, dass nicht europäische AktivistInnen oder Regierungen das Grenzregime buchstäblich aus den Angeln hoben. Ausschlaggebend war vielmehr die massenhafte Aneignung des grundlegenden Rechts auf Bewegungsfreiheit durch ganz normale Menschen – junge wie alte, Kinder, Frauen und Männer, gläubige und nicht gläubige, gesunde und solche, die im Rollstuhl saßen.

Die Konturen des neuen globalen Grenzregimes haben sich seitdem verschärft. Oft sind die betroffenen Menschen aus den Herkunftsländern zu arm, um an Migration auch nur zu denken. Viele der aus ihrer lokalen Überlebensökonomie Vertriebenen landen in den großen, von UNHCR oder ICRC notdürftig unterhaltenen Lagern, deren Namen wir kaum kennen. Sie sind Teil einer globalen Paria-Schicht: die »Überflüssigen« im weltweiten WTO- und IWF-Kapitalismus.

Zudem die schwierige Gemengenlage in Europa: Zehntausende von Flüchtenden und Migrierenden werden Wege gleicher Rechte versperrt in Orten wie Brüssel, Ventimiglia-Menton, Caen-Calais-Großbritannien oder Lesbos, in denen NBNP-AktivistInnen NGOs unterstützen, Pufferzonen für Ankommende und Push-back-Betroffene zu schaffen. Die aktuellen Berichte geben Einblicke in die unterstützenden Infrastrukturen. Eine multimediale Reportage zeigt den Einsatz einer NBNP-Gruppe von Februar bis April 2018 in Ventimiglia. Interessierte, die Unterstützung leisten möchten, können sich per Mail bei uns melden und erhalten einen kostenlosen Workshop. Um die Infrastrukturen an den Orten aufrechtzuerhalten und für neue Projekte, bitten wir Sie um Mithilfe in Form von Spenden und Solipartys.

Ghaylan, NBNP-Aktivist im Dialog bei „Mensch, Haltung“:
„Der Sommer 2015 am Budapester Bahnhof war keine Szene für eine schwarze Komödie. Es war unsere schmerzhafte Realität. Die sogenannte Flüchtlingskrise ist eine Krise europäischer Migrationspolitik. Die europäischen Staaten und die EU finden keine nachhaltigen Antworten auf die Migrations- und Flüchtlingszahlen und weigern sich weltweite Migration als Normalität ihrer täglich mitproduzierten globalen Welt zu betrachten.“

Zudem positionieren wir uns für solidarische »Sanctuary Cities«, also Städte als Orte einer neuen politischen Phantasie: Unsere kommunalpolitische Antwort auf die globale Krise der Migrationspolitik und Abschottungspolitik ist die konkrete Utopie solidarischer Städte, wo Wege zu globalen sozialen Rechten geschaffen werden und kein Mensch abgeschoben wird, in der sich alle frei und ohne Angst bewegen können, in der kein Mensch nach einer Aufenthaltserlaubnis gefragt wird, in der kein Mensch illegalisiert wird. Alle Menschen sollen teilhaben und das Stadtleben mitgestalten können – unabhängig von Aufenthaltsstatus, finanziellen Möglichkeiten, Hautfarbe, Geschlecht, Sexualität, Religion.

In vielen Städten in Deutschland, Europa und der ganzen Welt ist der Prozess, eine Stadt der Zuflucht zu werden schon in vollem Gang. Derzeit befindet sich die Seebrücke Hildesheim, die wir unterstützen, in einem Prozess, eine solche Basis vor unseren Haustüren aufzubauen und wir suchen den Austausch mit städtischen AkteurInnen für eine »Stadt für Alle«. Die Potsdamer Erklärung, die Hildesheim als eine der ersten Städte unterzeichnete, ist ein guter Anfang, auf dem Weg dahin. Dennoch bedarf es weiterhin das kritische Begleiten von zivilgesellschaftlichen AkteurInnen. Initiativen in ganz Deutschland – wie das ärztliche Medibüro Berlin, Papiere für Alle Göttingen oder das Forschungsprojekt »Städte der Zuflucht« der Refugee Law Clinic Hamburg mit einem ersten Rechtsgutachten (1/2020), ob mit Hilfe einer Stadt-Karte eine Aufenthaltsgenehmigung für Illegalisierte möglich ist – bauen bereits an der sozial-ökologischen Stadttransformation von Morgen. 

Zukünftig möchten wir Lösungswege mit lokalen antirassistischen PartnerInnen erörtern, wie die Zahl der Ausreisepflichtigen in Hildesheim reduziert werden könnte. In den vergangenen Jahren stieg die Zahl im Jahr 2018 auf jährlich 318 Ausreisepflichtige (Integrationsplan Stadt Hildesheim, Stand 2018). Nach wie vor gibt die Ausländerbehörde MigrantInnenorganisationen nicht Auskunft über die Rückführungen und Dublin-Abschiebungen in Hildesheim und Landkreis.

Zudem sind wir seit der Eröffnung der Zentralen Abschiebehörde in Hannover-Langenhagen zusammen mit Solinet Hannover und der Seebrücke Hannover an Gegenprotesten und im Projekt „behördenwatch“ beteiligt.

Das Konzept solidarischer Städte ist nicht neu: Ein wichtiger Schritt war die symbolische City of Refugee Resolution in San Francisco 1985. Sie verbot den Gebrauch von städtischen Geldern und Ressourcen zur Kooperation mit ermittelnden und überwachenden Aktivitäten der Migrationsbehörden.

Drittens die Fotoausstellung »Unter der Brücke kann man die Sterne nicht sehen«: Sieben Schutzbedürftige erzählen mit ihrem Blick über ihre Situation in einem frei entstanden Camp in Ventimiglia. Wir haben eine Ausstellung auf die Beine gestellt, die auf eine, gegenüber den beteiligten Menschen respektvolle Weise Erfahrungen von unserem Einsatz an der italienisch-französischen Grenze von Februar bis April 2018 zeigt. Diese Ausstellung erweitern wir mit aktuellen Geschichten einiger unserer Freunde. Im weiteren Schritt möchten wir mit ihren Erzählungen des fortgesetzten Weges nach Mittel- und Nordeuropa Bewusstsein auch für die inneren Grenzen Europas schaffen. Einige von ihnen lebten daraufhin prekär an Orten wie Belgien, Großbritannien oder Deutschland, bekamen keinen rechtmäßigen Anspruch auf Asyl, einen erschwerten Arbeits- und Gesundheitszugang oder wurden gar inhaftiert.

Zudem organisieren wir Buchvorstellungen mit Zain-Alabidin al-Khatirs Autobiografie »Ums Überleben kämpfen. Meine Flucht aus dem Sudan und Libyen nach Deutschland«, arete Verlag 2019. Wenn Sie Interesse an der Fotoausstellung oder einer Buchvorstellung mit Zain-Alabidin Al-Khatir haben, können Sie uns hier kontaktieren.

Buchvorstellung mit Zain-Alabidin im Maloja-Festivalbegegnungszelt. Am Ende las er aus dem letzten Kapitel seiner Autobiografie: „Diese Menschen hingegen wollen einfach nur ihr Leben retten und ihren Seelenfrieden finden. Sie versuchen, daran besteht kein Zweifel, der Hölle zu entkommen, in der sie leben mussten. Jetzt brauchen sie dringend Menschen, die sie unterstützen, ihnen Zuflucht bieten und ihnen dabei helfen, zurechtzukommen. Und wahrscheinlich brauchen sie auch Menschen, die sie aus ihrer Einsamkeit holen und mit ihnen die Leere füllen, die ihr bisheriges Leben zuweilen hinterlassen hat.“

Viertens ein großes Festival Ende Juni 2020 in Hildesheim für eine Gesellschaft der Vielen. Das Maloja-Festival richtet den Blick darauf, einen gesellschaftlichen Begegnungspunkt zwischen Kulturen für ein solidarisches Miteinander zu schaffen. Höhepunkt ist ein Festival, das sich an drei Tagen in Hildesheim entlang des Langen Gartens bis hin zum Ottoplatz erstrecken wird. Es werden Planende, Kreative und helfende Hände gesucht. Es finden jetzt bereits vorhergehende Veranstaltungen statt. NBNP unterstützt bei der Planung und Durchführung neben vielen anderen Akteuren aus und um Hildesheim. +++Das Maloja-Projekt wurde abgeschlossen und antirassistischen Akteur:innen sowie Künstler:innen in der Corona-Pandemie mit Ausfallhonoraren geholfen. Hier geht es zur Dokumentation des Organisierungsprozesses.+++

Fünftens sind wir Akteure und Teil einer neuen Post-Zivilgesellschaft: Sie umfasst Initiativen, die sich nicht einseitig auf die politische Durchsetzung von Forderungen orientieren, sondern aus guten Gründen eigene, autonome Praxen und damit eine soziale Macht entwickeln und von dort aus Strategien ihrer Stärkung und politischen Durchsetzung auflegen (z. B. transnational gemischte Organisierungen wie Afrique-Europe-Interact oder Adopt a Revolution). Sie fragen nicht zuallererst, wie die Gesellschaft durch die Regierung verändert werden kann. Sie fragen, wie die Realität der postmigrantischen Gesellschaft, der Mobilität, der sozialen Heterogenität, der Solidaritätsinitiativen in Politik und soziale Rechte übersetzt wird.

Das gleiche gilt für den Beitrag der Migrationsbewegungen. Es ist die Autonomie der Migration und ihre Unaufhaltsamkeit, die über die Anwesenheit der MigrantInnen das Außen der globalisierten Welt in das Innere der Städte holt – und damit eine neue politische Konstellation ermöglicht. Dafür müssen unten institutionell neue Orte des städtischen Zusammenkommens geschaffen werden. Lokale Akteure, welche die Teilhabe stärken, wie Brücke der Kulturen, Asyl e. V., Flux, Integrationsbeirat oder HAWK Open benötigen ehrenamtliches Engagement. Auf Veranstaltungen machen wir auf die lokalen Anlaufmöglichkeiten aufmerksam, bei denen einige unserer Akteure selbst engagiert sind. 

Seebrücke-Demonstration am 6. Juli in Hildesheim, dessen Geburtsstadt Berlin ist und seitdem neue Räume in der (Post)-Zivilgesellschaft geschaffen hat, aus denen die Bewegung programmatisch neue politische und soziale Rechte, vor allem für in Seenot Gerettete, forciert. Im Jahr 2017 fand in Berlin zudem die erste «We’ll Come United»-Parade im Regierungsviertel statt, bei der eine Woche vor der Bundestagswahl knapp 10.000 Menschen für die Rechte von Migrant*innen demonstrierten, die meisten von ihnen selbstorganisierte Gruppen von Geflüchteten.

Ebenfalls eine zentrale Rolle spielt der Wissensaustausch sowohl mit Flüchtlingsselbstorganisationen als auch mit einer kritisch-aktivistischen Migrations- und Grenzregimeforschung: An der Universität Hildesheim forscht die Arbeitsgruppe Migrationspolitik, »Der Weg über die Kommunen«, Hannes Schammann. Mit dem Transfer der Arbeitsgruppe, AStA und dem Institut für Philosophie gestalten wir die Universitätspolitik mit. NBNP gründete sich 2017 aus einem freien Projekt der philosophischen Fakultät.

Auch an der Universität Göttingen, dem Centre for Global Migration Studies oder Osnabrück, dem Forschungsverbund Gender, Flucht, Aufnahmepolitiken gibt es kritische Praxisansätze. Viele der WissenschaftlerInnen davon sind im forschenden Aktivismus-Netzwerk kritnet tätig, das seit über 10 Jahren interdisziplinär transnational Initiativen aufbaut und jährlich zwei Konferenzen bundesweit organisiert. Das Wissen auf solchen und ähnlichen Kongressen nutzen wir für einen Überblick zu aktuellen promigrantischen Kämpfen und sozialen Bewegungen. Verwiesen sei daher noch auf den Rat für Migration, ein bundesweiter Zusammenschluss von über 150 WissenschaftlerInnen, die 2017 Leitlinien für eine zukunftsfähige Politik in einem Manifest präsentieren. Daneben kommentiert der Rat öffentliche Debatten, wie das beschlossene Asylpaket am 7. Juni 2019. »Das Paket vermittelt weiterhin gesellschaftlich die Botschaft der Migration als Krise und nicht als Normalität und Chance«, Yasemin Karakaşoğlu.

„Die zirkuläre Migration ist kein Konzept aus einer, sagen wir, westlichen Sprache. Sie ist auch mehr als ein Konzept, sie ist ein Paradigma, unser Paradigma – unser Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschheit. Es ist ein menschliches Prinzip, die Energien zirkulieren zu lassen. Es geht um Migration, um Bewegung, um Geben und Nehmen. Das sollte Europa fördern, nicht blockieren. Denn sobald man diese Bewegung behindert, gibt es Desorientierung. Und das führt unvermeidlich zu Dramen. Und wenn immer härtere Maßnahmen ergriffen werden, vergrößert und verstärkt das nur diese Dramen. Wir sind schon lange von einer zyklischen Bewegung zu einem Zyklus der tödlichen Bewegung übergegangen. Entmenschlichen wir also nicht die Menschheit – um nicht weniger als dies geht es!“- Alassane Dicko