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Autor: pastinake Seite 1 von 4

Wer dekolonisiert die Grenzen und die Mobilität?

Eine Zeitreise nordostafrikanischer Perspektiven auf die humanitäre Grenze, wer sie bezahlt und davon profitiert.

TOM SOLBRIG, freier Autor

Der Bundeskanzler im Gespräch mit dem Autobiograf Zain al-Khatir (»Ums Überleben kämpfen«) in Erfurt am 03.10.2022, den der Autor Tom Solbrig seit seinem ersten Buchgespräch begleitet. Vor Kurzem baute Zain eine Schule in seiner Geburtsregion Darfur, bevor der Krieg wieder ausbrach. Der ARD-Korrespondent Stefan Maier filmte dies sowie die Rückkehr zu seiner Familie. Foto: Olaf Scholz/Instagram

Wer schafft die weltweite Migration ohne die »lebenden Leichname«? Mit der Bezeichnung umwölbte die Exilphilosophin Hannah Arendt die Staatenlosen infolge des Ersten Weltkriegs. Ihr erschien es unheimlich, dass den Staatenlosen von den national eingesessenen Bevölkerungen ein Standort in der Welt abgesprochen werde. Schafft dies heute der »Globale Pakt für sichere, geordnete und reguläre Migration«, vereinbart von nahezu allen UN-Mitgliedstaaten im Dezember 2018? Wohl nicht, meinen die renommierten Politologen Sandro Mezzadra und Brett Neilson und stimmen einer weitläufigen These in der Migrationsforschung zu, dass »das Engagement für geordnete, reguläre und sichere Migration einfach die Unordnung, Unregelmäßigkeit und Unsicherheit der weltweiten Migration anerkennt, um sie durch ein neues Regime zu steuern«, schreiben sie in ihrem dritten Buchprojekt »The capitalist virus« 2022.

»Ein Bittsteller möchte, dass seiner Rede geneigt angehört wird, bis erfüllt wird, weswegen er gekommen ist«

Angenommen, wenn Ratlosigkeit die Räume der Institutionen des neuen Regimes für Mobilität bestimmt, dann könnten für die sich aufdrängende Frage die ältesten vollständig erhaltenen Weisheitsschriften wegweisend sein. Sie sind auf Ptahhotep zurückzuführen, ein altägyptischer Stadtverwalter und erster Minister des Pharaos Isesi in der fünften Dynastie von 2388–2356 v. Chr. Der historisch belegte Ptahhotep lehrt in Maxime 17, von denen es 37 auf Papyri, Holztafeln und Tonscherben gibt, hohe Beamte, die mit Antragstellern wohlwollend umgehen sollen: »Wenn du jemand bist, an den man Gesuche richtet, dann höre geduldig auf das, was der Besucher sagt… Ein Bittsteller möchte, dass seiner Rede geneigt angehört wird, bis erfüllt wird, weswegen er gekommen ist«, übersetzte die Ägyptologin, Waltraud Guglielmi, diese Beamtentugend aus den Hieroglyphen.

Welche Versprechen können heute Regierungsbeamte mit Blick auf die geäußerten Nöte des Buchautors Zain al-Khatir geben? Wie Kanzler Olaf Scholz, dem er »Ums Überleben kämpfen« schenkte, seine biografische Zeugenschaft, die Flucht aus dem Sudan über Libyen nach Deutschland, das ausgerechnet am »Tag der Deutschen Einheit«. Seine Wiedervereinigung mit den Lebenden war die Rettung am 1. August 2015 im Mittelmeer, nicht aber für die vergewaltigten Frauen in Libyen, denen Zain um Verzeihung bittet, nicht geholfen zu haben, nachdem er auf seinem Höllenweg vom libyschen Bengali im November 2013 bis zu den Bootsablegern in Zuwara eine Welt voller Erniedrigungen und Angst kennenlernte – ohne Annehmlichkeiten oder Sicherheit, Mitleid und Erbarmen. 3.000 Euro verlor er an kriminelle Schleuser, weil es keine legalen Fluchtkorridore und Migrationsrouten gab.

»Jetzt ist mein ganzes Glück aufgebraucht«

Zain sagt Scholz, dass die lange Wartezeit nach Anerkennung Menschen kaputt macht. In seiner chronologischen auf Papier erzählten Geschichte verabschiedet der damals 21-Jährige seinen Vater im westsudanesischen Darfur und macht sich mit seinem Freund Gamr von Omdurman auf dem Weg nach Ägypten, der darin endet, dass sie sich in Deutschland durch das Asylverfahren nicht willkommen fühlen. Zain erhält einen Ablehnungsbescheid. Was die Lesenden am Ende nicht erfahren: Während Zain mittlerweile dauerhaft bleiben kann, belastet Gamr der deutsche Behördendruck. Fünf Jahre lang musste er trotz Arbeitsqualifizierung alle sechs Monate seinen Aufenthaltstitel verlängern. Daher trifft er 2020 die Entscheidung nach Großbritannien über den nordfranzösischen Ärmelkanal einzureisen. Zur lebensgefährlichen Überquerung zwingen ihn die Regierungen des Vereinigten Königreichs und Frankreichs, die sichere Migrationsrouten blockieren. Beide Länder verstärken ihr militarisiertes Vorgehen gegen die Einwanderung. Diese reichen bis zur Südgrenze zu den Camps in Norditalien, wo an den Meeralpen Abschiebehaft-Container der französischen Grenzpolizei (PAF) sind, die den Asylsuchenden die Einreise verweigert. Im Mai 2022 drängte die französische Gendarmerie der Marine (GM) erstmalig 19 Bootsflüchtende zurück, obwohl Frankreich die britische Forderung, Ausreisende in seinen eigenen Hoheitsgewässern abzufangen, bislang ablehnte. Für die unentdeckte Einreise kaufen Gamr und sein Freund ein Schlauchboot und Motor auf dem Flohmarkt. An der Nordküste Frankreichs geben sie ihr Mietauto ab und setzen in der Nacht ihre Odyssee im Atlantik fort, Handelsschiffe erschweren sie. Bis zu ihrer Rettung dauert es fünf Stunden, berichtet Zain. Im Vereinigten Königreich angekommen habe Gamr sich dann über die größere Diversität in den Behörden gefreut, nach zwei Monaten erhielt er eine fünfjährige Aufenthaltserlaubnis, es beruhige ihn, von Afrobriten vertreten zu werden, weshalb er dann zu Zain sagte: »Jetzt ist mein ganzes Glück aufgebraucht.«

»Nur wer bereitwillig zuhört, handelt auch nach dem Gesagten«

Hören die Verantwortlichen flüchtenden Zeitzeugen gut genug und bereitwillig zu, um politische Entscheidungen zu entwerfen? Wie Zains Unrechtserlebnisse südlich des Mittelmeeres im Kontext des vorgelagerten EU-Grenzregimes? Denn »nur wer bereitwillig zuhört, handelt auch nach dem Gesagten«, meint Ptahhotep. In Libyen waren im August 2022 680.000 Migranten nach Zählungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM). Zudem registrierte das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) im Dezember 2022 43.000 Flüchtende und Asylstellende, insgesamt konnte es seit der Operation 3.500 ausfliegen und 1.000 aus den Haftzentren befreien, von denen die deutsche Botschaft in Niger von »KZ-ähnlichen Verhältnissen« in einem Bericht 2017 spricht. Wie geht das UNHCR selbst mit einer Serie von Protesten Schutzsuchender vor seinen Büros in Ägypten, Libyen, Tunesien oder dem UNHCR-Hauptsitz in Genf im Dezember 2022 um, das sich als Anwalt für die Rechte der Schutzsuchenden versteht? Und welche Äußerung des Sonderbeauftragten des UNHCR für das westliche und zentrale Mittelmeer empörte im September 2022 viele, während die Mütter und Schwestern ihrer  Verschwundenen und Verstorbenen an den EU-Grenzen zu einer Protestaktion in Tunesien zusammenkamen? Der Reihe nach.

»Werdet laut, geht auf die Straße. Sonst werde man nicht gehört von den in der Politik Tätigen und denen, die Privilegien haben«

»Ums Überleben kämpfen« spreche für alle, die in die EU kommen wollen und appelliere an die Politik, sagt Zain, von der er erwarte, ihre Schritte offenzulegen, was zur Verbesserung unternommen werde. Ein Millionenpublikum hörte seinen Schwierigkeiten in den Talks zu, mit: Alice Hasters, Klaas Heufer-Umlauf und Salwa Houmsi. Er sprach auf der Pressekonferenz der Kapitänin Carola Rackete, diskutierte mit den Delegierten von »Fridays for Future Germany« über den Zusammenhang von Waffengewalt und fossilen Energien südlich des Mittelmeeres oder mit dem Oranienplatz-Aktivisten Adam Baher, ein Initiator des Berliner Protestcamps von 2012 bis 2014 für die Rechte von Geflüchteten, gegen Rassismus und Polizeigewalt. Im Oktober 2022, zum zehnjährigen Bestehen der promigrantischen Bewegung, ein Baustein zum Wendepunkt des »Sommer der Migration 2015« und deutschen Asylsystems, gab Adam in der Diskussion mit der anwesenden afroamerikanischen Bürgerrechtsikone Angela Davis den Ratschlag: »Werdet laut, geht auf die Straße. Sonst werde man nicht gehört von den in der Politik Tätigen und denen, die Privilegien haben.«

»Let Peace be everywhere«

Nun richtet Zain sein Gesuch an Scholz. Wenn der Kanzler Zain nach dem Schönen fragt, würde er mit der ostafrikanischen geigen- und akkordeongetriebenen Orchestermusik antworten, ein einzigartiges Gegenstück zum nördlichen tiefen und schweren Soul: sie sei wunderschön und atemberaubend. Da ist die Sudanesin Hanaan an-Nyl mit ihrem Song »Sabahat Shogna« (1993), der typisch für die Musik Ostafrikas durch die pentatonische Tonleiter mit fünf Tönen pro Oktave ist. Zain sang als Kind mit, als sie im Radio lief und sei »eine der schönsten Stimmen, die Sie jemals hören werden.« Als den besten ostafrikanischen Song halten viele am Horn von Afrika und Zain das 1999 vertonte Lied »Nour Al-Ain« übers Augenlicht von Mohammed Wardi. Er wird nicht nur im Sudan als überlebensgroße Figur bewundert, sondern auch im englisch- und französisch-sprachigen Afrika. Sein wellenförmiger Gesang, hier auf Arabisch, begeistert, der aus dem Klang seiner nubischen Muttersprache schöpft, einer 7.000 Jahre alten Kultur. Dazu die exzellente Qualität und das anspruchsvolle Arrangement hinterlassen eine äußerst eskapistische Musik aus weiblichem Begleitgesang, Bongos, Congas, Schlagzeug, Bassline, Keyboard, funkigen Gitarrenriffs, Violinen und Querflöte neben Saxophonsolo. Es versetzt durch die gesteigerte Emotionalität in schnelle Schrittkombinationen und eine lustgewinnende Stimmung. Unvergessen bleibt die Verehrung des 2012 verstorbenen Wardi für sein gesellschaftliches Engagement, wobei seine politischen Lieder dazu führten, dass er inhaftiert wurde, erzählt der erste Rapper aus Darfur, Abbass Anoor, der eine Zusammenarbeit zu Wardis Leadgitarristen Kamilio John für das brillante »Let Peace be everywhere« pflegte, ein grooviger Rap. Abbass und Zain veranstalteten 2019 in seinem niedersächsischen Wahlwohnort Hildesheim einen berührenden Abend, in welcher er erstmalig sein auf Arabisch verfasstes Buch verlas. Anschließend berichtete die sudanesische Diaspora von Atemnot, einige erschreckende Kapitel retraumatisierten sie. Aber bei diesem Buchgespräch heizte Abbass, wie auch Wardi einst bei einer Menschenrechtsdemonstration vor der sudanesischen Botschaft mit seiner hinreißenden Stimme, die Atmosphäre einer ansonsten düsteren Versammlung an. Das überzeugendste Ereignis, erzählt Abbass, war von allen neben zehntausend Tanzenden zu »Ya Ragyani Orkest« (Oh, ich hoffe Sie tanzen) in Addis Ababa, wohl Wardis Konzert 1990 in Itang, der zeitweisen Heimat von 250.000 kriegsvertriebenen Südsudanesen in Äthiopien, bei dem er von einer Holzplattform in einer staubigen Landschaft spielte. Es ist circa 1.500 Kilometer vom heutigen Zufluchtsort im Ostsudan von über 55.000 Äthiopiern aus der Kriegsregion Tigray entfernt. In Itang war der heilsame Einfluss der Musik nie überzeugender und für einen Moment schien die Hoffnung auf Versöhnung in diesem zerrissenen Land, wo die durch britische Kolonialbehörden umgesetzte Südpolitik eine Verantwortung für die tief verwurzelten Spaltungen zwischen Nord und Süd bzw. der Vernachlässigung ländlicher Gebiete von 1930 bis 1946 im Sudan hat. Denn nach dem Militärputsch 1989 war Wardi schon im Exil in Kairo und Los Angeles.

»Die Stöcke, die zusammenbleiben, sind schwer zu brechen«

Wenn man sich mit Zain länger über Politik unterhält, merkt man, dass er ähnlich wie Wardi kein Freund von Ratschlägen ist. Den angeblich einzigen Rat, den Wardi der Öffentlichkeit gab, war eine Gedichtzeile: »Die Stöcke, die zusammenbleiben, sind schwer zu brechen.« Er wollte, dass wir eins sind, er wollte nicht draußen allein sterben. Zains dauerhafter Erstwunsch war nie Europa, im geringsten dachte er an die tödliche Mittelmeerüberquerung, als er den Sudan aus politischen Gründen verlassen musste, sondern an Ägypten, da wo die sudanesischen Viertel in Kairo sind. Menschen fliehen in Länder, wo sie bereits Bekannte und Verwandte haben. Und so ist mittlerweile auch Westeuropa kein isoliertes gallisches Dorf mehr, sondern eine durch Einwanderung und Durchquerung vernetzte Weltgemeinschaft.

»Nothilfe-Treuhandfonds der Europäischen Union für Afrika«

In Ägypten, wo die Verfassung von 2014 zwar explizit das Recht erlaubt, Asyl im Land zu beantragen, gibt es keine rechtlichen Anerkennungsverfahren und schätzungsweise 6,3 Millionen Menschen mit internationaler Geschichte. Davon sind die Hälfte aus dem Sudan in den letzten Jahrzehnten eingewandert. Weitere wichtige Herkunftsländer sind die ostafrikanischen Länder Somalia, Eritrea, Äthiopien sowie Jemen und Syrien aus Westasien. Die ägyptischen Sicherheitsbehörden deportierten wiederholt mehrere sudanesische Oppositionelle, westchinesische uigurische Studierende und Eritreer. Dabei kooperierten sie im Aufspüren mit den jeweiligen Herkunftsländern. Neben nicht-westlichen Hilfsorganisationen für Unterstützungsleistungen ist das UNHCR der einzige Beratungsort für Flüchtende, um Schutzstatus oder die Umsiedlung zu beantragen – mit langen Wartezeiten zur Feststellung des Flüchtendenstatus, von einem Jahr bis 18 Monate. Im Januar 2022 lebten mehr als 280.000 vom UNHCR als Flüchtende registrierte Menschen in Ägypten, davon über 95.000 Kinder. Mit fast 140.000 sind mehr als die Hälfte Syrer, circa 52.000 aus dem Sudan. Gegen das Registrierungssystem und die unzureichenden Unterstützungsleistungen des UNHCR protestierten geflüchtete Asylstellende in Ägypten 2005, zwischen 2011 und 2013 und 2019, dessen Demonstration durch ägyptische Sicherheitsbehörden des Diktators al Sisi gewaltsam geräumt wurden. Der Großteil der zwischen 40 bis 90 verhafteten Protestierenden kam nach wenigen Tagen frei. 84% der Flüchtenden und Asylstellenden leben unterhalb der Armutsgrenze; rund 30% der ägyptischen Bevölkerung. Zur Verbesserung des Migrationsmanagements ägyptischer Behörden, der Bekämpfung von Migrationsursachen und der Unterstützung von Aufnahmegemeinden im Land wurden bisher 60 Millionen Euro als einziges umfassendes Projekt »Zur Verbesserung der Reaktion auf Migrationsherausforderungen in Ägypten« (ERMCE) aus Mitteln des »Nothilfe-Treuhandfonds der Europäischen Union für Afrika« (EUTF) gefördert. Zudem stellte die EU für Migranten fast drei Millionen Euro zum Schutz vor Covid-19 und zwischen 2021 bis 2022 elf Millionen Euro humanitäre Hilfe für Flüchtende und Asylstellende bereit. Demgegenüber steht eine längere Chronologie europäischer Abschottungspolitik, die unmittelbare Herkunftsorte betrifft.

»Der Ruf der EU stehe auf dem Spiel«

2010 soll der libysche Ex-Diktator Gadaffi 60 Millionen Euro im Rahmen des »EU-Nachbarschafts- und Partnerschaftsinstrument« (ENPI) erhalten haben, um die afrikanische Mittelmeerüberquerung nach Europa einzudämmen. Kurz vor seinem Sturz kam es zur Plünderung eines riesigen Waffenarsenals. Im gleichen Jahr lud die EU-Grenzschutzagentur Frontex erstmalig afrikanische Geheimdienstchefs für einen größeren Informationsaustausch ein, mehrmals trafen sie sich, seit 2015 auch in Afrika und mit Vertretern aus Fluchtländern, einige hatten Beobachterstatus, darunter die Diktaturen Eritrea, Sudan. 2016 reiste Angela Merkel nach Niger, Mali und Äthiopien zur Bekämpfung der illegalisierten Migration. Dazu verstärkte die EU ihre Verhandlungen mit über 20 afrikanischen Ländern. Ein geheimer Bericht des Auswärtigen Amtes gibt tiefe Einblicke zu den Treffen: »Der Ruf der EU stehe auf dem Spiel, wenn sie sich zu stark mit dem Land engagiere«, gemeint sind Eritrea, Sudan. Auch sie sollen europäische Hilfen für mehr Migrationskontrolle durch den sogenannten Khartum-Prozess erhalten, den in der sudanesischen Hauptstadt 49 Länder unterzeichneten. Obwohl es die erklärte Absicht der Partner war, »eine wirksame, humanitäre und sichere europäische Migrationspolitik zu schaffen«, wie die EU nach den Sondierungen zwischen EU-Staats- und Regierungschefs mit ihren afrikanischen Amtskollegen in Malta 2015 mitteilte, wurde der Khartum-Prozess von Wissenschaftlern, des parteiübergreifenden Ausschusses für internationale Entwicklung des Vereinigten Königreichs und von Beobachtern der sudanesischen Demokratiebewegung in Deutschland kritisiert, zu welcher auch der Oranienplatz-Aktivist Adam Baher gehört. Die Bedenken äußerten sich auf die Verwendung von EU-Mitteln von 2016 bis 2018 zur Unterstützung der Gefangennahme, Inhaftierung und in einigen Fällen Folter von Flüchtenden und anderen Migranten durch libysche und sudanesische Behörden. Oxfam stellte fest, dass von den bereitgestellten 400 Millionen Euro nur 3% für die Entwicklung sicherer legaler Migrationswege und der Rest für die Migrationskontrolle ausgegeben wurden. Seit Februar 2017 wird die libysche Küstenwache mit 32,6 Millionen Euro durch das zwischen der italienischen Regierung und von der EU geförderte Abkommen (MOU) mit der libyschen Regierung unterstützt. Es verlängerte sich 2020 um weitere drei Jahre. Alle an der libyschen Küste Abgefangenen sollen zurückgedrängt werden. Zivile Berichte offenbaren hingegen staatliches Kidnapping der mit der Küstenwache beauftragten libyschen Milizen. Um die Migration in Ostafrika besser zu steuern oder Menschenhandel und -schmuggel in der Region zu verfolgen, wurde seit 2017 das »Regionale Operative Zentrum zur Unterstützung des Khartum-Prozesses« (ROCK) von der Afrikanischen Union (AU) in Khartum mit einer Finanzierung von fünf Millionen Euro eingerichtet, zwischenzeitlich wechselte es seinen Standort 2019 nach Naoribi, Kenia, aufgrund von Vorwürfen, wonach es die sudanesische paramilitärische Eingreiftruppe (RSF) geschult habe. Sie geht aus Dschandschawid-Milizen hervor, die während des Krieges in Darfur im Auftrag der sudanesischen Regierung kämpften, Zivilisten töteten, vergewaltigten und ihre Häuser niederbrannten. EU-Vertreter erklärten, dass ROCK-Zentrum sei geschlossen worden, um »die Sicherheit seiner Mitarbeiter zu schützen«, das 2019 wieder in Khartum öffnete und teilten auf eine parlamentarische Anfrage 2020 mit, dass ROCK noch nie repressive Kräfte im Sudan oder in einem anderen Land der Region unterstütze und ausschließlich mit Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeite. Ein spezifischer Informations- oder Datenaustausch sei über sichere Interpool-Systeme und nicht mit der EU vorgesehen. Im November 2022 berieten die Innenminister der EU-Staaten über den »EU-Aktionsplan für den zentralen Mittelmeerraum«. Mindestens 580 Millionen Euro von 2021 bis 2023 sind im Rahmen des »EU-Nachbarschaftsinstruments für Entwicklung und internationale Zusammenarbeit« (NDCI-GE) vorgesehen, um den 20-Punkte-Aktionsplan zu erfüllen. Dieser sieht eine stärkere Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Durchreiseländern in Nordafrika vor. Man wolle die irregularisierten Ausreisen verhindern und Menschenleben entlang aller Migrationsrouten retten sowie »Kapazitäten von Tunesien, Ägypten und Libyen stärken«, heißt es in Punkt drei des Plans. Punkt elf sieht vor, »schnelle, gezielte Rückführungsaktionen mit Unterstützung von Frontex« einzurichten. Davon sind 80 Millionen Euro für ägyptische Sicherheitsbehörden vorgesehen. Durch die EU-Grenzverlagerung sind die größten Profiteure die Militärregime, wie Ägypten, Eritrea oder Sudan, die dadurch innenpolitisch die Macht zementieren. Bislang denkt Al Sisi mit seiner Migrationspolitik »nicht daran, die EU zu erpressen«. Zweifelsohne gehört auch die Rüstungsindustrie zu den Gewinnern, wie die mit der ägyptischen Aufrüstung beauftragten Firmen: Dassault, Naval Group, Renault Trucks Defense oder Nexa Technologie (aus Frankreich), Airbus Helikopter, Diehl Defense, Rheinmetall mit seiner südafrikanischen Tochterfirma, ThyssenKrupp Marine Systems (aus Deutschland), Beretta und Iveco (aus Italien).

Durch die verlagerte EU-Südgrenze sind am meisten die politisch Verfolgten betroffen, die durch die Zusammenarbeit der Militärregime und der aufgerüsteten Sicherheitsapparate dem wohl größten push-Faktor ausgesetzt und gezwungen sind, übers Mittelmeer zu fliehen. Das betrifft auch jene, die aus Subsahara-Afrika nicht mehr vom relativen wirtschaftlichen Wohlstand ihrer nördlichen Nachbarländer profitieren können.

»Ich bin der Gast, den Gott Euch schickt«

Die Debatte zur Migrationsfreiheit ist mindestens genauso alt wie die Beschränkung von Zuwanderung: Auf der einen Seite steht die Gastfreundschaft und Toleranz zwischen den Zivilisationen, wie in Westafrika, die der malische Schriftsteller Amadou Hampâté Bâ mit einer besonderen Begrüßungsformel beiwohnt: »Die Worte „ich bin der Gast, den Gott Euch schickt“ genügten, dass sich sämtliche Türen gleich einem Sesam-öffne-dich auftaten. Der Durchreisende war ein geheiligter Gast, und nicht selten überließ ihm das Familienoberhaupt sein eigenes Schlafgemach.« Auf der anderen Seite sind in Afrika 83% der registrierten Flüchtenden in Lagern und Asylunterkünften – in Europa sind es 14%. Hungernde Menschen, die notdürftig vom Internationalen Roten Kreuz (ICRC) und Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) versorgt werden, bestimmen die Bilder, obwohl die Lager Übergangsräume des zeitweisen Schutzes und der Hoffnungen sein können. Da es weltweit viele Langzeitlager gibt, werden sie aber zu Zeltstädten und Freiluftgefängnissen umzäunt von Nato-Stacheldraht, mit denen die Asylländer Kontrolle über die im Land lebenden Flüchtenden ausüben. Die kolonialen Internierungslager der Italiener im nordlibyschen Cyrenaika zwischen 1923 und 1931 gehören zum Beginn dieser Lager und waren zugleich die »ersten faschistischen Konzentrationslager in der Geschichte«, schreibt der libysche Historiker Abdulhakim Nagiah. In den Vernichtungslagern waren unter 100.000 Libyern vorwiegend Nomaden der Kyrenaika.

»Sonst würde man dieses Glücksspiel nicht eingehen und sein Leben riskieren«

Nach mehreren Binnenmigrationen fasst Zain in Libyen den Entschluss zur Weiterflucht übers Mittelmeer, weil selbst die Arbeit für Hungerlöhne abnimmt und schreibt, »dass es besser ist zu sterben, als so wie bislang weiterzuleben. Sonst würde man dieses Glücksspiel nicht eingehen und sein Leben riskieren«. Als Lebensrisiken in Libyen nennt er: Folter, Sklavenarbeit, Gefechte um den Golf von Sidra, Menschen, die als Waren in gefängnisähnlichen Hallen untergebracht sind, Hitze und Kälte, Hunger und Durst, fehlende Hygiene und ständige Angst. Einige profitieren von den Zugewanderten in Libyen: Die nicht-internierten Migranten werden im informellen Bereich der Ökonomie, vorwiegend im Bau, der Landwirtschaft und als Hausangestellte ausgebeutet. 2021 waren 80% von ihnen in einem Beschäftigungsverhältnis. Dazu verdienen die Milizen, indem sie die Zugewanderten in den Lagern erpressen und sie auf überfüllte Boote drängen. Betroffen sind auch die Verwandten von Zugewanderten, bei denen erwartete Rücküberweisungen ausbleiben und die Erpressungsgelder meist einsammeln müssen. Zudem bereichern sich durch die EU die Milizen als libysche Küstenwache, Lagerverwalter und Grenzwächter an der Südgrenze. Hinzu gibt es einen aufgeblähten humanitäreren Sektor. Italienische Medien recherchierten im April und September 2019, dass von den sechs Millionen Euro Steuergeldern der italienischen Regierung zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Flüchtenden in Libyen offenbar Lagerwächter verdienten und italienische NGOs, die eigentlich damit für humanitäre Aufgaben beauftragt waren, sich am Bau von Zäunen und Toren beteiligten. Als Land mit den größten Erdölreserven des Kontinents gab es einst bis zu eine Million Arbeitsmigranten und im Verhältnis gut bezahlte Arbeit – heute kämpfen mehrere Mächte um den Einfluss und Zugriff auf die Quellen, worunter auch die Milizen und die italienische Mafia involviert sind. 2017 wurde wegen eines 30 Millionen Euro schweren Treibstoffschmuggels unter neun Beschuldigten ein Mafiaboss der sizilianischen Santapaola verhaftet. Der von der libyschen »National Oil Corporation« gestohlene Treibstoff wurde vor der Küste Maltas umgeladen und nach Italien gebracht. Nicht zuletzt verdient durch die EU-Grenzverlagerung und dem Waffenschmuggel die europäische, russische und türkische Rüstungsindustrie.

Daher erhoffte sich die Bundesregierung mit der Berliner Libyen-Konferenz 2021 offiziell innerlibysche Versöhnungsprozesse. Tatsächlich ist aber Deutschland aus Eigennutz für ein stabiles Land interessiert, um mit einer geordneten Migrations- und Grenzpolitik die Bootsflüchtenden zu reduzieren. In der Abschlusserklärung der zweiten Berliner Libyen-Konferenz wird zwar »Frieden und Wohlstand für alle Libyerinnen und Libyer« gefordert – die Indigenen, Staatenlosen und Zugewanderten ohne nationale Privilegien sind ausgeschlossen.

»Alarmphone Sahara«

Von den UN-Institutionen werden die Zugewanderten in Libyen, darunter auch die Gefangenen, in zwei Kategorien unterschieden: in Menschen mit »potentieller Flüchtendeneigenschaft« und Migranten. Bei letzteren ist eine Rückkehr in ihr Herkunftsland durch das »Programm für die freiwillige humanitäre Rückkehr« (VHR) möglich. Über 50.000 Migranten hat die IOM von 2017 bis Februar 2020 auf EU-Kosten aus Libyen in über 44 Herkunftsländer ausgeflogen, wo sie von IOM-Mitarbeitern empfangen werden und 1.500 Euro Wiedereingliederungshilfe erhalten. Allerdings werden die Zustände in den IOM-Lagern in der libyschen Grenznähe zu Niger kritisiert, wo tausende Binnenabgeschobene sind, von denen die NGO »Alarmphone Sahara« berichtet, täglich mit Menschenrechtsverletzungen durch die EU-Grenzpolitik konfrontiert zu sein und beklagen die mangelnde Versorgung. Zukünftig sollen die »erzwungenen Rückführungen« in Südlibyen durch Frontex-Aktivitäten erleichtert werden, die in Kooperation mit Italien sowie der IOM Grenzkontrollmaßnahmen in Zusammenarbeit mit der »EU-Mission zur Unterstützung des Grenzschutzes« (EUBAM Libyen) durchführen.

In Libyen kommt ein Viertel der Zugewanderten aus Niger, 19% aus Ägypten, 18% aus Sudan, 13% aus Tschad und 5% aus Nigeria, worunter 12% Frauen und 12% Kinder sind. Von Juli 2020 bis Juli 2022 wurden von den 11.173 Migranten, die von der IOM in Libyen mit speziellen Schutzdiensten unterstützt wurden, 1.614 als Opfer von Menschenhandel identifiziert, worunter die meisten aus Nigeria, Somalia und Sudan waren. Diese wurden von der IOM zu ihrer zugrundeliegenden Motivation ihrer Einreise nach Libyen befragt. 85% hatten von Anfang an die Absicht zu reisen. Die fünf wichtigsten Reiseziele der Fälle waren Libyen, Italien, Deutschland, Frankreich und das Vereinigte Königreich. Weitere Gründe mit jeweils rund 5% gaben an, Arbeit oder Flucht vor Gewalt zu suchen.

Die am häufigsten festgestellten Formen der Ausbeutung waren Entführung mit dem Ziel der Erpressung, Zwangsarbeit und Sexhandel. Das häufigste von den Opfern angegebene Mittel zur Kontrolle durch die Menschenhändler war mit 30% körperliche Misshandlung, gefolgt von rund 10% jeweils eingeschränkter Zugangsmöglichkeit, verweigerte Freizügigkeit, Vorenthaltung von Dokumenten und falsche Versprechungen. Die beiden häufigsten Formen des Erstkontakts der Opfer mit den Anwerbern waren über den Freund eines Freundes (37%) oder im öffentlichen Raum (35%). Nur 36 von ihnen besaßen einen regulären Status, über 90% reisten nicht über eine offizielle Grenze ein. Daher will die EU enger mit dem libyschen Arbeitsministerium zusammenarbeiten, um afrikanischen Staatsangehörigen, Arbeitsvisa zu erteilen, mit dem Ziel, die Zahl der irregularisierten Migranten in Libyen zu verringern und die Identifizierung zu verbessern.

Für die »potentiellen Flüchtenden«, worunter Staatsangehörige aus Afghanistan, Äthiopien, Eritrea, Irak, Palästina und Sudan zählen, ist der UNHCR zuständig. In der öffentlichen Debatte, in der Viele zu Wort kommen, aber selten die »ohne nationale Privilegien«, sind Zains Perspektiven durch Unrechtserlebnisse wichtig, die einer technischen Abwesenheit von Asylbehörden einhergehen. Mit dem von der EU geförderten Programm »Notfall-Transit-Mechanismus« (ETM) sollen Evakuierungsflüge ehemals gefangene Flüchtende aus Libyen an sichere Orte bringen. Der erste Evakuierungsflug war im November 2017. Aufnehmende Staaten sind bislang gering und meist aus Afrika. Die 2019 von der Bundesregierung zugesagten 300 Plätze für Flüchtende aus Libyen wurden zum Jahresende nicht abgerufen. Bis 2021 wurden die meisten mit über 3.000 in Niger, 800 in Italien und 500 in Ruanda aufgenommen. 2019 erklärte Ruanda noch 30.000 Schutzsuchende aus dem ETM-Projekt Zuflucht zu gewähren. Soviel steht fest: Es gibt viel zu wenig Plätze im ETM-Programm für die Evakuierung auf der Grundlage von vulnerabelen Gruppen erstellten Listen des UNHCR. Dramatisch für den UNHCR ist, dass für Libyen 49% des Budgets von 70 Millionen Dollar für 2022 zum Jahresende fehlten. Schließlich bezahlt die EU die Milizen der libyschen Küstenwache, welche die abgefangenen Ausreisewilligen in die Lager bringen, aus denen der UNHCR sie dann befreit. Allein in einer Dezemberwoche 2022 wurden 1.042 von ihnen abgefangen und nach Libyen zurückgedrängt, 2021 waren es über 32.400.

»Es müsste mit den Parteien, die die jeweiligen Gebiete kontrollieren, Abkommen geben, die unseren Mitarbeitern die leichtere Einreise und die Arbeit ermöglichen«

Die Forderung von »humanitären Visa« nahm schon der Ex-Außenminister Sigmar Gabriel auf. Die Idee damit war auch das Schleppergeschäft zu erledigen, ein Produkt des Grenzregimes. Immerhin gibt es einige deutsche Fregatten im Mittelmeer für einen solchen Korridor. 2022 sind nach Angaben des italienischen Innenministeriums circa 102.600 Bootsflüchtende über den Seeweg nach Italien gelangt, die meisten schafften es von ihnen allein, viele retteten Handelsschiffe und die italienische Küstenwache, knapp 14% trafen auf NGO-Schiffe ein,  fast 2.000 schafften den Seeweg nach UNHCR-Schätzungen nicht. Seit Januar 2023  erschwert ein Dekret der rechtsextremen Regierung Italiens die Rettung von NGO-Schiffen. Ein UNHCR-Sprecher antwortete auf die Frage, was die Ursachen für die Restriktionen der »humanitären Visa« des UNHCR sind und was passieren müsste, um die Blockade zu lösen, dass es keine »Host Country Agreement« gebe, also Abkommen mit dem Gastland: »Es müsste mit den Parteien, die die jeweiligen Gebiete kontrollieren, Abkommen geben, die unseren Mitarbeitern die leichtere Einreise und die Arbeit ermöglichen. Das ist derzeit nicht in Aussicht.« Das Zertifikat, das der UNHCR den Asylsuchenden ausstellt, erkennen die libyschen Behörden nicht an und schützt dementsprechend nicht vor Inhaftierung. »UNHCR hat nie geschwiegen, wenn es um die Misshandlung von Flüchtenden und Asylsuchenden ging – nicht in Libyen und nicht in anderen Ländern«, sagt der UNHCR-Sprecher.

»Warum ignoriert der UNHCR unsere Tränen in Libyen?«

Allerdings scheint der Austausch des UNHCR mit der EU und den EU-Staaten intransparent. Auf einer auch von Zain gestellten Anfrage äußerten sich weder das Bundespresseamt, noch der UNHCR-Sprecher zu den Sondierungen von Scholz mit dem Hohen Flüchtlingskommissar der UN, Filippo Grandi, im November 2022. Der einzige Vermerk ist, dass sie sich zur globalen, europäischen und nationalen Flüchtlingslage austauschten und über die Situationen in spezifischen Herkunfts- und Aufnahmeländern sprachen. Zu den größten Geberländern des UNHCR, der über 10 Milliarden Dollar für 2023 verlangt, gehören die USA, gefolgt von Deutschland, die am meisten zusagten.

Die größte Kritik an den UNHCR ist, dass er den humanitären Raum mit der verlagerten Grenz- und Managementpolitik der Geberländer verschränkt. Daher demonstrierten tausende Flüchtende rund 100 Tage lang in Tripolis vor dem UNHCR-Büro, dessen Aktion im Januar 2022 libysche Sicherheitskräfte gewaltsam beendeten. Die Proteste gingen aus Razzien gegen Flüchtendengemeinschaften hervor in einem Viertel von Tripolis. Mehr als 5.000 Menschen, darunter viele Minderjährige wurden in Haftanstalten untergebracht. Eine Woche später kam es zur Rebellion. Während Hunderten die Flucht gelang, eröffneten bewaffnete Sicherheitskräfte das Feuer und töteten sechs Menschen und verletzten Dutzende. Es war ein Protest, der lange nachwirken wird und bei dem der UNHCR durch fragwürdige Reaktionen unglücklich agierte. Der Protest folgt auch auf jene in Libyen von 2013, mit 650 Hungerstreikenden, 2018, als Inhaftierte vorwiegend aus Äthiopien und Eritrea die Öffnung eines Gefangenenlagers bewirkten, 2019, mit weiteren Protesten aus Angst und Verzweiflung, einer wurde in einem Gefangenenlager blutig von libyschen Sicherheitskräften niedergeschlagen, andere Gefangene schrieben auf Plakaten: »Warum ignoriert der UNHCR unsere Tränen in Libyen?«, und nachdem bei einem Luftangriff auf das Lager in Tajoura 53 Gefangene ums Leben kamen, aber der UNHCR darauf nur 55 der verbleibenden 360 Personen aus dem Lager evakuierte, kam es zu einem weiteren Hungerstreik.

»Wir können nicht weiter schweigen, solange sich niemand für uns und unsere Rechte einsetzt« 

Weil die Massenproteste von »Refugees in Libya« trotz ihrer diversen Informationskanäle in Leitmedien unsichtbar blieben und die Öffentlichkeit ihre politische Bedeutung nicht zur Kenntnis nehmen, versammelten sich im Dezember 2022 vor dem UNHCR-Hauptsitz in Genf ihre Unterstützer, um »den Stimmen all derer Gehör zu verschaffen, die von einer Behörde, die sie eigentlich schützen soll, ignoriert, bestraft und ungerecht behandelt werden«, schreibt »Refugees in Libya«: »Wir können nicht weiter schweigen, solange sich niemand für uns und unsere Rechte einsetzt.« Die umfangreiche Protestkampagne bestand aus mehrsprachigen Komitees, die sich um bestimmte Aufgaben kümmerten, darunter politische Kampagnen und Verhandlungen, Medienarbeit, Reinigung des Lagergeländes, Vermittlung zwischen Protestierenden und Organisation der medizinischen Versorgung, und knüpft an andere Mobilisierungen von Flüchtenden an, wie »Oranienplatz-Bewegung« oder »Lampedusa in Hamburg«. Parallel gab es weitere Mobilisierungen vor den tunesischen Büros des UNHCR in Medenine und Zarzis.  

»Dieselben Mütter hatten kein Problem damit, ihre Kinder zu ermutigen oder zu finanzieren, sich auf diese gefährlichen Reisen zu begeben«

Als in Zarzis am 6. September 2022 die Familien der verschwundenen und verstorbenen Migranten an den EU-Grenzen zu einer Protestaktion zusammenkamen, sendete der Sonderbeauftragte des UNHCR, Vincent Cochetel, einen Tweet, für den er sich nachträglich entschuldigte: »Wir trauern um den Verlust. Aber dieselben Mütter hatten kein Problem damit, ihre Kinder zu ermutigen oder zu finanzieren, sich auf diese gefährlichen Reisen zu begeben. Wie im Senegal könnte die symbolische Verfolgung von Eltern, die ihre Kinder in Gefahr bringen, einen ernsthaften Einstellungswandel in Bezug auf Todesfahrten auslösen.« Daher wurden in Genf während des internationalen Solidaritätsprotests neben den Forderungen, wie die Befreiung aller in den Lagern festgehaltenen Flüchtenden, die sichere Unterbringung und schnellstmögliche Evakuierung aus Libyen, dem Finanzierungs-Stopp der libyschen Küstenwache und der Internierungslager durch die EU und EU-Staaten sowie die Unterzeichnung der Genfer Flüchtlingskonvention und ein Ende der Straflosigkeit in Libyen, auch Stimmen laut aufgrund weiterer inakzeptabler Äußerungen von Cochetel, den UNHCR dazu aufzurufen, den Sonderbeauftragten zu entlassen. Die von ihm beleidigten und traumatisierten Mütter und Schwestern, die öffentliche Antworten für das Verschwinden am Gedenktag forderten, werfen ihm in einer »Gemeinsamen Erklärung« vor, »anstelle das EU-Grenz- und Visaregime zu tadeln und die tödliche Migrationspolitik anzuprangern, die Opfer zu beschuldigen und sie zu Tätern zu machen.« Zudem weisen sie darauf hin, dass der UNHCR als Ganzes tiefe institutionelle Mängel aufweise und Menschen, die es zu schützen vorgibt, immer wieder im Stich lasse. Das Verhalten des UNHCR gegenüber schutzbedürftigen Gruppen in Ländern wie Libyen und Tunesien und die entsetzliche Reaktion seiner Mitarbeiter auf die dortigen Proteste machen einige der vielen schwerwiegenden Mängel dieser UN-Organisation deutlich.

»Schaffung sicherer Reisewege für Alle«

Auch Zain besorgen die Entwicklungen. Wie blickt er auf das Gespräch mit Scholz zurück? Zum Festtag bedankt sich der Kanzler bei den mutigen Bürgern der DDR für die Wiedervereinigung als großen Befreiungsmoment. Zains Erwartungen an die Bundesregierung sind groß. »Sei nicht eingebildet auf dein Wissen und verlass dich nicht darauf, dass du ein Weiser seist, sondern besprich dich mit dem Unwissenden so gut wie mit dem Weisen«, beginnt Ptahhotep in seiner ersten Maxime, eine Ermahnung, der den Pharao darum bittet, einen Nachfolger für sein Amt unterweisen zu dürfen. Wenn Zain eine Bitte an Scholz richtet, dann »die Freizügigkeit der Menschen zu respektieren, in die Rettung von Menschenleben auf den Migrationsrouten und die Schaffung sicherer Reisewege für Alle zu investieren sowie in „Kommunen des Willkommens“, statt der gewaltsamen Verhinderung von Migration durch hunderte Millionen von Euro«, und verurteilt die Tatenlosigkeit des UNHCR, der internationalen Gemeinschaft inklusive der AU. Es ist immer ein bisschen schwierig vorauszusehen, wohin sich die Projekte des Mobilitätsregimes bewegen. Mit den hartnäckigen Kämpfen von Migranten in den libyschen Internierungslagern oder indischen Wanderarbeitenden bestehe das Potenzial für die Schaffung eines anderen Mobilitätsregimes, schreiben die Politologen Mezzadra und Neilson, und schlussfolgern: »Die Bedeutung dieser Kämpfe beschränkt sich nicht nur auf den Bereich der Migration. Wie wir behaupten, haben sie Auswirkungen auf die Zukunft des Weltkapitalismus und die Gesundheit und das Glück derjenigen, die innerhalb und gegen dieses heterogene und scheinbar allgegenwärtige planetarische System arbeiten.«

Anmerkung: Hinweise zur journalistischen Transparenz finden Sie ganz unten. Wir danken Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Ist das Flüchtlingsrecht imperialistische Rechtsprechung?

Im Anschluss an: »Wer dekolonisiert die Grenzen und die Mobilität?« – Eine Nachbesprechung mit dem sudanesisch-US-amerikanischen Rechtswissenschaftler Abdullahi Ahmed An-Na’im mit der Suche nach rechtsphilosophischen Perspektiven auf die literarische Zeugenschaft: »Ums Überleben Kämpfen«

»Das Menschenrechtssystem ist nur dazu da, dass die westlichen ehemaligen Kolonialstaaten ihre imperiale Hegemonie über den globalen Süden aufrechterhalten können« – ABDULLAHI AHMED AN-NA’IM

DISKUSSION mit Tom Solbrig, freier Autor

Abdullahi Ahmed An-Na’im war von 1993 bis 1995 Direktor von African Watch, ist Autor von »Decolonizing Human Rights« (2021), emeritierter Professor für Recht an der Emory University in Atlanta und Schüler des wegen Apostasie (Abkehr eines bestimmten Glaubens) angeklagten und 1985 gehängten und sudanesischen Reformdenkers Mahmud Muhammad Taha. Dieser vertritt 1967 in seinem arabischen Hauptwerk: »The Second Message of Islam«, das An-Na’im 1987 ins Englische übersetzte, die Vorstellungen von einer Erneuerung des Islams, die ihm von Allah offenbart worden sei. Tahas Titel ist provokant: Nach islamischen Verständnis ist die Offenbarung mit dem Propheten Mohammed beendet, daher kann es keine »zweite Botschaft« geben. Die Hauptthese von Taha zur Entwicklung des islamischen Rechts fasst An-Na’im im Vorwort so zusammen: Der Islam, der nach muslimischem Glauben die endgültige und universelle Religion ist, wurde zuerst in toleranter und egalitärer Hinsicht in Mekka angeboten, wo der Prophet Gleichheit und individuelle Verantwortung zwischen allen Männern und Frauen ohne Unterschied aus Gründen der race, des Geschlechts oder der sozialen Herkunft predigte. Da diese Botschaft in der Praxis abgelehnt wurde und der Prophet und seine wenigen Anhänger verfolgt und gezwungen wurden, nach Medina auszuwandern, änderten sich einige Aspekte der Botschaft als Reaktion auf die sozioökonomischen und politischen Realitäten der Zeit. Das historische islamische Scharia-Gesetz, wie es den Muslimen heute bekannt ist, basierte auf Texten der zweiten Stufe. In der Medina-Phase reagierte Gott durch den Propheten im Koran und in der Sunna auf die potenziellen und tatsächlichen Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft in dieser Phase ihrer Entwicklung. Zu diesem Zweck wurden einige Aspekte der früheren Offenbarungsebene und der Sunnah aus rechtlicher Sicht aufgehoben, obwohl sie auf moralischer und überzeugender Ebene wirksam blieben.

An-Na’im bezeichnet sich als praktizierender Sufi im Sinne Tahas. An-Na’im erzählt, dass nach Tahas Verständnis ein wahrer Sufi jemand sei, der sich in allen sozialen und politischen Aktivitäten engagiert; in der Nacht bereite sie oder er sich durch spirituelle Praktiken auf das Leben in der Welt vor. Denn menschliche Beziehungen seien für Taha die wichtigsten Werte gewesen, dessen Haus ein ständiges Netz von Aktivitäten war, »um seine Ideen zu verbreiten, jeden Tag in seinem Leben«.

Sie haben sich viel mit der Dekolonialisierung von Menschenrechten im Allgemeinen beschäftigt. Worauf konzentrieren Sie sich mit Blick auf die Menschenrechte von Flüchtenden?
AN-NA’IM: Erstens sollten wir uns darauf konzentrieren, die Bedingungen zu bekämpfen, die Flüchtende dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Das erfordert eine ernsthafte Beschäftigung mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten sowie den bürgerlichen und politischen Menschenrechten. Auf dieser Ebene liegt das Versagen bei der internationalen Gemeinschaft im Allgemeinen, insbesondere bei den großen ehemaligen Kolonialmächten USA und Westeuropa und den Mitgliedern des Sicherheitsrates, einschließlich China. Alle Waffen, die in internen Konflikten im globalen Süden eingesetzt werden, und das Geld, um diese Waffen zu bezahlen, kommen aus dem globalen Norden.  

Zweitens müssen wir uns beim Umgang mit Flüchtenden auch auf die Menschenrechte als Rechte aller Menschen konzentrieren und nicht nur auf die Bürgerrechtsnormen in den entwickelten Ländern. In diesem Punkt werfe ich den westeuropäischen Staaten und den USA vor, dass sie bei der Wahrung der Menschenrechte von Flüchtenden versagt haben, z. B. indem Großbritannien die Verpflichtungen des Landes zur Wahrung der Rechte von Flüchtenden an Ruanda weitergegeben hat. Das eigentliche Problem besteht darin, dass im eigenen Land politischer Druck ausgeübt wird, »die Flüchtende loszuwerden«. Menschenrechte sind dazu da, Randgruppen wie Flüchtende zu schützen, und zwar immer und überall und nicht nur, wenn es gerade passt.

Was sind ostafrikanische und islamische Perspektiven auf Mobilität und Flucht, um das westliche Konzept von Migration zu dekolonisieren? Alassane Dicko von der Assoziation »Der Abgeschobenen Malis« prägt den Begriff der zirkulären Migration als notwendige Entwicklungs- und Überlebensstrategie westafrikanischer Gesellschaften. In der islamischen Welt ist das Verhältnis ambivalent: Einerseits warnt ein populäres Sprichwort in Damaskus, wer seine Heimat verlasse, mindere seinen Wert. Andererseits bezeichnet »Ahlanwasahlan« den guten Umgang mit Fremden. Bereits in der vorislamisch-arabischen Kultur wurden diejenigen gepriesen, die Fremden gegenüber Freundlichkeit und Großzügigkeit zeigten, mit dem Titel ma‘wā al-gharīb – Zuflucht des Fremden.
Die Bewegung der Bevölkerung ist so alt wie die Menschheit auf der Erde und wird bis zum Ende der Zeit andauern. Menschen sind schon immer umgezogen und werden es auch weiterhin tun, um zu überleben und der Gewalt zu entkommen. Was wir heute als »politische Flüchtlinge« bezeichnen, ist das Produkt europäischer »Nationalstaaten« mit festen Grenzen. Die Definition des Begriffs »Flüchtling« basiert auf dem Konzept des Territorialstaats mit geschlossenen Grenzen. 

Sie sind seit vielen Jahren als Menschenrechtsaktivist in verantwortlicher Position tätig. Sie haben viel zu diesen Themen veröffentlicht. In welchem Zusammenhang sehen Sie den Begriff »globale Gerechtigkeit« mit Staatenlosen? Migration wird im westlichen Diskurs vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Genfer Flüchtlingskonvention, der Bekämpfung von Fluchtursachen und der geregelten Migration angesprochen.
Ich war zwei Jahre lang Direktor von African Watch (heute Teil von Human Rights Watch) und bin zurückgetreten, weil ich mit dem damaligen Präsidenten von Human Rights Watch in ähnlichen Fragen uneins war. Meiner Ansicht nach erfordert globale Gerechtigkeit globale Lösungen, aber das derzeitige Menschenrechtssystem ist nur dazu da, dass die westlichen ehemaligen Kolonialstaaten ihre imperiale Hegemonie über den globalen Süden aufrechterhalten können. Dies nenne ich »Menschenrechtsabhängigkeit« im meinem Buch »Decolonizing Human Rights«.

Bei der globalen Gerechtigkeit geht es darum, das Selbstbestimmungsrecht aller Völker überall zu respektieren, und zwar in allen Bereichen, in denen wir mit ihnen zu tun haben (Handel, Umwelt, Friedenssicherung), und nicht nur auf internationalen Konferenzen und in Reden vor dem Menschenrechtsrat in Genf. Auf konkrete Situationen angewandt, bedeutet Selbstbestimmung das Recht der Völker, das Recht für sich selbst zu definieren, einschließlich der Menschenrechte, und nicht, dass ehemalige Kolonialmächte bestimmen, was Menschenrechte für die ganze Welt bedeuten.

Das ist ein interessanter Punkt: Wodurch wären Vertriebene und Staatenlose weniger menschenrechtsabhängig und ihre Lebensbedingungen dementsprechend besser? Ich erinnere mich, dass Sie den westlichen Rechtsimperialismus schon in Ihrem Artikel 2013 mit dem Titel: »From the Neocolonial ‘Transitional’ to Indigenous Formations of Justice« kritisieren. Welcher Weg liegt vor uns, wenn nicht ehemalige Kolonialmächte bestimmen, was Menschenrechte für die ganze Welt bedeuten?
Ich bin bestrebt, dass jeder zu Wort kommt bei der Definition dessen, was globale Gerechtigkeit ist. Wenn ich also dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) kritisch gegenüber stehe oder der Situation in Darfur, dann erhebe ich Einspruch gegen die Tatsache, dass in diesem Kontext keine Rücksicht auf Ressourcen von Gerechtigkeit der lokalen Gemeinschaften genommen wird. Ich behaupte nicht, dass individuelle Verantwortlichkeit schlecht ist, sondern ich sage, dass die Menschen, die die Subjekte in diesem Konflikt sind, die in den Deportations- und Flüchtlingslagern leiden, dies sollten die Menschen sein, die über ihre eigenen Prioritäten hinsichtlich dessen, was Gerechtigkeit für sie ist, entscheiden sollten. Der Prozess sollte nicht über die so genannte »internationale Gemeinschaft« laufen, die eine Definition von Gerechtigkeit entwirft, sei diese nun redistributiv oder distributiv. (Anmerkung des Autors: Redistributiv ist die Verteilung oder Umverteilung von Ressourcen durch staatliche Maßnahmen, um soziale Gerechtigkeit oder gleiche Chancen zu fördern. Distributiv: Verteilung von Ressourcen basierend auf individuellen Leistungen oder Verdiensten, ohne starke staatliche Eingriffe.)

Wir sollten daher damit beginnen, die betroffenen Menschen zu ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit und ihren Prioritäten zu befragen.

Welche Möglichkeiten bieten offene Grenzen oder andere migrationspolitische Kontexte in Afrika? 
Offene Grenzen sind in Afrika notwendig und möglich, zumindest auf regionaler Ebene (Ost, West, Zentral) aufgrund der Schwäche der willkürlichen kolonialen Staatsbildung, die die soziologischen und wirtschaftlichen Interessen der lokalen Bevölkerung nicht berücksichtigt hat. 

Ist ein Mittelmeerraum mit offenen Grenzen, wie mit einer Fähre von Tripolis nach Palermo, gerechter?
Warum sollte man die Diskussion auf das »Mittelmeer« beschränken, anstatt sich mit der allgemeinen Problematik der Flüchtende zu befassen? Ich glaube nicht, dass irgendeine regionale Lösung gut genug ist, und betone, dass die Ursachen des Konflikts vor Ort gelöst werden müssen, um die Notwendigkeit der Flucht von Flüchtenden zu verhindern, anstatt zu versuchen, die Probleme der Flüchtlingslager zu lösen.

Welche Auswirkungen hat die Grundthese in »Die zweite Botschaft« von Taha auf das Recht nach globaler Freizügigkeit?
Die »Zweite Botschaft« hat das POTENZIAL, hervorragende Auswirkungen auf die globale Freizügigkeit zu haben, aber alles, was ich tun kann, ist, Tahas Ideen weiter zu fördern, wie lange es auch immer dauern mag. Das ist es, was Taha zu sagen pflegte: »Konzentriere dich auf deine eigene unmittelbare Verpflichtung, ungeachtet der Aussichten auf kurzfristigen Erfolg.«

Zum Beitragsbild: Die Schwierigkeit der Philosophien, Tom Solbrig, 2019, 200×120, Acryl und Pastellkreide auf Leinwand

Hinweis: Der Autor steht für die Richtigkeit seiner Recherchen und die Autorisierung der Zitate. Auf Anfrage stehen die verwendeten Quellen zur Verfügung.
Kontakt: solbrigt[at]uni-hildesheim.de

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Ist das Flüchtlingsrecht imperialistische Rechtsprechung?

DISKUSSION TOM SOLBRIG, freier Autor

Der sudanesisch-US-amerikanische Rechtswissenschaftler Abdullahi Ahmed An-Na’im im Interview.

»Das Menschenrechtssystem ist nur dazu da, dass die westlichen ehemaligen Kolonialstaaten ihre imperiale Hegemonie über den globalen Süden aufrechterhalten können« – ABDULLAHI AHMED AN-NA’IM

Abdullahi Ahmed An-Na’im war von 1993 bis 1995 Direktor von African Watch, ist Autor von »Decolonizing Human Rights« (2021), emeritierter Professor für Recht an der Emory University in Atlanta und Schüler des wegen Apostasie angeklagten und 1985 gehängten, sudanesischen Reformdenkers Mahmud Muhammad Taha. Dieser vertritt 1967 in seinem arabischen Hauptwerk: »The Second Message of Islam«, das An-Na’im 1987 ins Englische übersetzte, die Vorstellungen von einer Erneuerung des Islams, die ihm von Allah offenbart worden sei. Tahas Titel ist provokant: Nach islamischen Verständnis ist die Offenbarung mit dem Propheten Mohammed beendet, daher kann es keine »zweite Botschaft« geben. Die Hauptthese von Taha zur Entwicklung des islamischen Rechts fasst An-Na’im im Vorwort so zusammen: Der Islam, der nach muslimischem Glauben die endgültige und universelle Religion ist, wurde zuerst in toleranter und egalitärer Hinsicht in Mekka angeboten, wo der Prophet Gleichheit und individuelle Verantwortung zwischen allen Männern und Frauen ohne Unterschied aus Gründen der race, des Geschlechts oder der sozialen Herkunft predigte. Da diese Botschaft in der Praxis abgelehnt wurde und der Prophet und seine wenigen Anhänger verfolgt und gezwungen wurden, nach Medina auszuwandern, änderten sich einige Aspekte der Botschaft als Reaktion auf die sozioökonomischen und politischen Realitäten der Zeit. Das historische islamische Scharia-Gesetz, wie es den Muslimen heute bekannt ist, basierte auf Texten der zweiten Stufe. In der Medina-Phase reagierte Gott durch den Propheten im Koran und in der Sunna auf die potenziellen und tatsächlichen Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft in dieser Phase ihrer Entwicklung. Zu diesem Zweck wurden einige Aspekte der früheren Offenbarungsebene und der Sunnah aus rechtlicher Sicht aufgehoben, obwohl sie auf moralischer und überzeugender Ebene wirksam blieben.

An-Na’im bezeichnet sich als praktizierender Sufi im Sinne Tahas. An-Na’im erzählt, dass nach Tahas Verständnis ein wahrer Sufi jemand sei, der sich in allen sozialen und politischen Aktivitäten engagiert; in der Nacht bereite sie oder er sich durch spirituelle Praktiken auf das Leben in der Welt vor. Denn menschliche Beziehungen seien für Taha die wichtigsten Werte gewesen, dessen Haus ein ständiges Netz von Aktivitäten war, „um seine Ideen zu verbreiten, jeden Tag in seinem Leben“.

Sie haben sich viel mit der Dekolonialisierung von Menschenrechten im Allgemeinen beschäftigt. Worauf konzentrieren Sie sich mit Blick auf die Menschenrechte von Flüchtenden?
AN-NA’IM: Erstens sollten wir uns darauf konzentrieren, die Bedingungen zu bekämpfen, die Flüchtende dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Das erfordert eine ernsthafte Beschäftigung mit den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechten sowie den bürgerlichen und politischen Menschenrechten. Auf dieser Ebene liegt das Versagen bei der internationalen Gemeinschaft im Allgemeinen, insbesondere bei den großen ehemaligen Kolonialmächten USA und Westeuropa und den Mitgliedern des Sicherheitsrates, einschließlich China. Alle Waffen, die in internen Konflikten im globalen Süden eingesetzt werden, und das Geld, um diese Waffen zu bezahlen, kommen aus dem globalen Norden.  

Zweitens müssen wir uns beim Umgang mit Flüchtenden auch auf die Menschenrechte als Rechte aller Menschen konzentrieren und nicht nur auf die Bürgerrechtsnormen in den entwickelten Ländern. In diesem Punkt werfe ich den westeuropäischen Staaten und den USA vor, dass sie bei der Wahrung der Menschenrechte von Flüchtenden versagt haben, z. B. indem Großbritannien die Verpflichtungen des Landes zur Wahrung der Rechte von Flüchtenden an Ruanda weitergegeben hat. Das eigentliche Problem besteht darin, dass im eigenen Land politischer Druck ausgeübt wird, »die Flüchtende loszuwerden«. Menschenrechte sind dazu da, Randgruppen wie Flüchtende zu schützen, und zwar immer und überall und nicht nur, wenn es gerade passt.

Was sind ostafrikanische und islamische Perspektiven auf Mobilität und Flucht, um das westliche Konzept von Migration zu dekolonisieren? Alassane Dicko von der Assoziation »Der Abgeschobenen Malis« prägt den Begriff der zirkulären Migration als notwendige Entwicklungs- und Überlebensstrategie westafrikanischer Gesellschaften. In der islamischen Welt ist das Verhältnis ambivalent: Einerseits warnt ein populäres Sprichwort in Damaskus, wer seine Heimat verlasse, mindere seinen Wert. Andererseits bezeichnet »Ahlanwasahlan« den guten Umgang mit Fremden. Bereits in der vorislamisch-arabischen Kultur wurden diejenigen gepriesen, die Fremden gegenüber Freundlichkeit und Großzügigkeit zeigten, mit dem Titel ma‘wā al-gharīb – Zuflucht des Fremden.
Die Bewegung der Bevölkerung ist so alt wie die Menschheit auf der Erde und wird bis zum Ende der Zeit andauern. Menschen sind schon immer umgezogen und werden es auch weiterhin tun, um zu überleben und der Gewalt zu entkommen. Was wir heute als »politische Flüchtlinge« bezeichnen, ist das Produkt europäischer »Nationalstaaten« mit festen Grenzen. Die Definition des Begriffs »Flüchtling« basiert auf dem Konzept des Territorialstaats mit geschlossenen Grenzen. 

Sie sind seit vielen Jahren als Menschenrechtsaktivist in verantwortlicher Position tätig. Sie haben viel zu diesen Themen veröffentlicht. In welchem Zusammenhang sehen Sie den Begriff »globale Gerechtigkeit« mit Staatenlosen? Migration wird im westlichen Diskurs vor allem im Zusammenhang mit Fragen der Genfer Flüchtlingskonvention, der Bekämpfung von Fluchtursachen und der geregelten Migration angesprochen.
Ich war zwei Jahre lang Direktor von African Watch (heute Teil von Human Rights Watch) und bin zurückgetreten, weil ich mit dem damaligen Präsidenten von Human Rights Watch in ähnlichen Fragen uneins war. Meiner Ansicht nach erfordert globale Gerechtigkeit globale Lösungen, aber das derzeitige Menschenrechtssystem ist nur dazu da, dass die westlichen ehemaligen Kolonialstaaten ihre imperiale Hegemonie über den globalen Süden aufrechterhalten können. Dies nenne ich »Menschenrechtsabhängigkeit« im meinem Buch »Decolonizing Human Rights«.

Bei der globalen Gerechtigkeit geht es darum, das Selbstbestimmungsrecht aller Völker überall zu respektieren, und zwar in allen Bereichen, in denen wir mit ihnen zu tun haben (Handel, Umwelt, Friedenssicherung), und nicht nur auf internationalen Konferenzen und in Reden vor dem Menschenrechtsrat in Genf. Auf konkrete Situationen angewandt, bedeutet Selbstbestimmung das Recht der Völker, das Recht für sich selbst zu definieren, einschließlich der Menschenrechte, und nicht, dass ehemalige Kolonialmächte bestimmen, was Menschenrechte für die ganze Welt bedeuten.

Das ist ein interessanter Punkt: Wodurch wären Vertriebene und Staatenlose weniger menschenrechtsabhängig und ihre Lebensbedingungen dementsprechend besser? Ich erinnere mich, dass Sie den westlichen Rechtsimperialismus schon in Ihrem Artikel 2013 mit dem Titel: »From the Neocolonial ‘Transitional’ to Indigenous Formations of Justice« kritisieren. Welcher Weg liegt vor uns, wenn nicht ehemalige Kolonialmächte bestimmen, was Menschenrechte für die ganze Welt bedeuten?
Ich bin bestrebt, dass jeder zu Wort kommt bei der Definition dessen, was globale Gerechtigkeit ist. Wenn ich also dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) kritisch gegenüber stehe oder der Situation in Darfur, dann erhebe ich Einspruch gegen die Tatsache, dass in diesem Kontext keine Rücksicht auf Ressourcen von Gerechtigkeit der lokalen Gemeinschaften genommen wird. Ich behaupte nicht, dass individuelle Verantwortlichkeit schlecht ist, sondern ich sage, dass die Menschen, die die Subjekte in diesem Konflikt sind, die in den Deportations- und Flüchtlingslagern leiden, dies sollten die Menschen sein, die über ihre eigenen Prioritäten hinsichtlich dessen, was Gerechtigkeit für sie ist, entscheiden sollten. Der Prozess sollte nicht über die so genannte »internationale Gemeinschaft« laufen, die eine Definition von Gerechtigkeit entwirft, sei diese nun redistributiv oder distributiv. Wir sollten daher damit beginnen, die betroffenen Menschen zu ihren Vorstellungen von Gerechtigkeit und ihren Prioritäten zu befragen.

Welche Möglichkeiten bieten offene Grenzen oder andere migrationspolitische Kontexte in Afrika? 
Offene Grenzen sind in Afrika notwendig und möglich, zumindest auf regionaler Ebene (Ost, West, Zentral) aufgrund der Schwäche der willkürlichen kolonialen Staatsbildung, die die soziologischen und wirtschaftlichen Interessen der lokalen Bevölkerung nicht berücksichtigt hat. 

Ist ein Mittelmeerraum mit offenen Grenzen, wie mit einer Fähre von Tripolis nach Palermo, gerechter?
Warum sollte man die Diskussion auf das »Mittelmeer« beschränken, anstatt sich mit der allgemeinen Problematik der Flüchtende zu befassen? Ich glaube nicht, dass irgendeine regionale Lösung gut genug ist, und betone, dass die Ursachen des Konflikts vor Ort gelöst werden müssen, um die Notwendigkeit der Flucht von Flüchtenden zu verhindern, anstatt zu versuchen, die Probleme der Flüchtlingslager zu lösen.

Welche Auswirkungen hat die Grundthese in »Die zweite Botschaft« von Taha auf das Recht nach globaler Freizügigkeit?
Die »Zweite Botschaft« hat das POTENZIAL, hervorragende Auswirkungen auf die globale Freizügigkeit zu haben, aber alles, was ich tun kann, ist, Tahas Ideen weiter zu fördern, wie lange es auch immer dauern mag. Das ist es, was Taha zu sagen pflegte: »Konzentriere dich auf deine eigene unmittelbare Verpflichtung, ungeachtet der Aussichten auf kurzfristigen Erfolg.«

TRANSPARENZ: DIE DISKUSSION FAND PER MAIL STATT UND IST ÜBERSETZT AUS DEM ENGLISCHEN

Zum Beitragsbild: Die Schwierigkeit der Philosophien, Tom Solbrig, 2019, 200×120, Acryl und Pastellkreide auf Leinwand
Kontakt: solbrigt[at]uni-hildesheim.de

Wie eine Gemeinde durch Zuwanderung weltweite Berühmtheit erlangte und wer das Willkommensprojekt zerstörte

Im süditalienischen Riace wurden verlassene Häuser zu Wohnzimmern von Vertriebenen. Was für eine Vision hatte der Bürgermeister der Gemeinde und warum drohen ihm und seinen 17 Mitstreitern hohe Strafen? 

TOM SOLBRIG, freier Autor

»Es ist nicht unwahrscheinlich, dass eines Tages die Guardia di Finanza kommt«, sagt Salvatore Del Giglio, Präfekturbeamter, am 17. Juli 2017 im Gespräch mit dem Bürgermeister der Gemeinde Riace, Mimmo Lucano, abgehört durch eine von fünf Wanzen, zwei waren in Lucanos Auto, zwei in der Zentrale seines Vereins Città Futura, die fünfte in seinem Büro.

Dann erklärt Del Giglio: »Die staatliche Verwaltung will nicht, dass die Geschichte von Riace Wirklichkeit wird… Ich bin mir sicher, dass die Organisation von allen Seiten durchnässt ist. Nicht zuletzt die Tatsache, dass es nach dem SPRAR (Schutzsystem für Flüchtlinge in Italien, heute: SIPROIMI) nichts mehr gibt.« Lucano fragt: »Warum muss Riace zahlen?« Del Giglio antwortet: »Der Fall von Riace in Italien ist in gewisser Weise atypisch, weil es nirgendwo sonst eine Duplikation gibt.« 2021 wurde Lucano in erster Instanz der kriminellen Verschwörung, des Betrugs, der Veruntreuung, der Fälschung und des Amtsmissbrauchs zu mehr als 13 Jahren Haft verurteilt.

Die Gemeinde ist der Öffentlichkeit seit 1998 bekannt, als sie zahlreich politisch verfolgte Kurden und später Geflüchtete und Migranten von überall aufnahm. Riace wurde zum Vorbild für Kommunen weltweit, weil die lokalen Strukturen trotz der prekären Verhältnisse eine Aussicht auf Unterkunft, sinnvolle Arbeit und Aufenthalt erlaubten. Das inspirierte den deutschen Starregisseur Wim Wenders so sehr, dass er 2009 den Film »Il Volo« (Der Flug) drehte und der Mitinitiator der Utopie, Lucano, 2004 bis 2018 Bürgermeister den »Dresdener Friedenspreis« 2017 bekam. Selbst der Papst würdigte Lucanos Integrationsprojekt. Das US-amerikanische Magazin Fortune zählt ihn zu den 50 einflussreichsten Menschen weltweit.

Doch der Wind des »Dorf des Willkommens«, in dem es eine eigene Währung gab, weil staatliche Gelder zu spät eintrafen, wendete sich, als gegen das Modell ermittelt wurde: »Im Oktober 2017 wurde ich von der Staatsanwaltschaft Locri als Beschuldigter registriert«, erinnert sich Lucano: »Die Anklage lautete besonders schweren Betrugs zum Zwecke der Erlangung öffentlicher Mittel zum Schaden des Staates und der EU, und weiter auf Erpressung im Amt als Missbrauch. Zusätzlich zur Benutzung der regionalen Banknoten wurde mir vorgeworfen, dass ich die 35 Euro, die wir pro Tag und Flüchtling vom Staat für dessen Versorgung genehmigt bekamen, für Arbeitsstipendien verwendet hatten, die eine wahre Integration erlaubten.« Es wurden 700.000 Euro Projektgelder zurückgefordert und 17 Mitstreiter für mitschuldig gesprochen. Kurz nach Urteilsspruch, als seine deutsche Autobiografie erschien, verteidigte er in nationalen Talks seine Utopie mit der barmherzigen Umdeutung dessen, was er falsch machte und ihm der Richter als betrügerische Bereicherung auslegt. Mittlerweile ist die Gemeinde mit seinen Wanderwegen am Dorffuß zum sichtnahen Mittelmeer unter einem rechten Bürgermeister gespalten.

Die Gemeinde Riace wirkte international wie ein Wolkenkuckucksheim in Zeiten der restriktiven Einwanderungspolitik Kalabriens, Italiens, Europas und der Internationalen Gemeinschaft. Fotos: Tom Solbrig

Die Einwohnerzahl in Riace ist wieder bei 2.000. Die 800 Zugewanderten wurden vertrieben. Die von Migranten bewohnten und sanierten Steinhäuser der Erben von verstorbenen Besitzern sind leer. Und das, obwohl zahlreiche Boote vorwiegend mit Afghanen Kalabrien erreichen. Von da landen einige in die Aufnahmezentren als billige Arbeitskräfte für die Ernte. Nach Angaben des italienischen Landschaftsverbands Coldiretti kommen jährlich 370.000 Saisonkräfte nach Italien.

War die Aufnahme von Zugewanderten auch ein Mittel zur eigenen Rettung der Gemeinde? Nicht nur das, denn viele fanden in Riace zum Leben zurück, wie Becky Moses. Sie konnte nicht nach Nigeria zurückkehren und war nach ihrer Ankunft aus Libyen in Italien 2015 in der Prostitution, um ihre Schulden bei den Schleusern zu begleichen, bis sie es nach Riace schaffte. Als 2017 die Ablehnung ihres Asylantrags jedem Traum ein Ende setzte, war Becky ohne Heimat, Familie, Geld. Ihr blieb nichts anderes als das Lager in San Ferdinando der »lebenden Leichname«, wie es die Philosophin Hannah Arendt bezeichnen würde. Fast hätte es Becky erneut geschafft, wenn nicht 2018 ein Feuer in der Zeltstadt sie verbrannte. Nur eine Stimme trauerte öffentlich um sie: Lucano. Nach der Ablehnung ihres Asylantrags durfte er sie nicht in seine Gemeinde aufnehmen. In der Berufung fordert der Staatsanwalt mehr als zehn Jahre Haft, der Lucano vorwiegend anlastet für die Genehmigungen von Langzeitaufenthalten, der »Permesso di lungo periodo«. Bis zum Urteil im Oktober wollen Lucanos Anwälte hingegen sein einziges Motiv beweisen: Aufnahme und Integration.

Nachtrag: Am 12. Oktober 2023 sprach das Gericht Lucano in zweiter Instanz frei. Eine Mitstreiterin Lucanos, die den gesamten Ermittlungsprozess verfolgte, sagte anschließend, dass alle erleichtert seien, aber auch besorgt sind, wie es nach der Zerstörung des Willkommensdorfes weitergeht.

Hinweis: Die Recherchen des Themas der Reportage berufen sich auf die wissenschaftliche Vorlesung zu »Solidarity Cities« und die Befragungen im Oktober 2021 und April 2022 als der Autor in Riace war sowie auf ausgewählte Medien und Literatur und können angefragt werden.
Aus Riace genießt derzeit der Autor das Olivenöl. Die Gemeinde war zudem Zufluchtsort des Autors vor den Städten Italiens.
Kontakt: solbrigt[at]uni-hildesheim.de

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Von AG Stadtlabor: Migration bewegt Hildesheim

Quelle: Kehrwiederzeitung

Das Straßenschild der Nettelbeckstraße in Hildesheim wurde in den vergangenen Wochen von besorgten Bürger:innen abmontiert.

„Der aktuelle Namensgeber Joachim Nettelbeck (1738 – 1824) war ein preußischer Seefahrer, der am transatlantischen Versklavungshandel beteiligt war, der versucht hat, drei preußische Könige zum Erwerb von Kolonien zu bewegen, und der als Verteidiger seiner Heimatstadt Kolberg zum nationalistischen „Volkshelden“ und Prototyp für die Militarisierung des deutschen Bürgertums wurde“, sagt Tahir Della, Sprecher der Initiative Schwarzer Menschen (ISD).

Nachdem die Bürger:innen das Straßenschild abmontierten, haben sie die Initiative »Solidarity City Hildesheim« (bestehend aus einem städtischen Netzwerk von Migrantenselbstorganisationen, Sozialarbeitenden, zivilgesellschaftlichen Gruppen, städtischen Politiker:innen und Stadtverwaltungen) ein Foto (siehe unten) gesendet und gebeten, diese Entfernung einzuordnen, Konsequenzen zu fordern und die weitere Koordinierung zu übernehmen.

In der sich inzwischen in Hildesheim herausgebildeten Debatte über den richtigen Umgang mit kolonialer Geschichte romantisiert CDU Hildesheim Politiker Mirco Weiß Joachim Nettelbeck in einem Facebook-Statement zum „Abenteurer“.

Adam Baher, Postkolonialismus-Referent des glokal e.V., stellt klar: „Die CDU Hildesheim kann die Fakten über Joachim Nettelbeck nicht ändern. Dieser Mann war kein Abenteurer, sondern Kapitän von Sklavenschiffen und Befürworter des Sklavenhandels mit Holländern und Engländern. Deutschland flieht immer noch vor seiner Kolonialgeschichte. Dies ist nicht der richtige Weg für eine vielfältige Gesellschaft.“

Runter vom Sockel und dann? Karte mit Kolonialverbrechen in Deutschland.

Die koloniale Vergangenheit holt Deutschland als drittgrößte europäische Kolonialmacht in Afrika zwischen 1885 und 1919 immer noch ein:
Mehr als 100 Jahre nach Ende des deutschen Kolonialreiches fordern Namibia, Tansania und Burundi von der Bundesregierung Reparationen für die von Deutschen begangenen Verbrechen. Daher fordern wir im Bezug zum deutschen kolonialen Erbe einen offenen runden Tisch auf vielen Ebenen, der zwischen postkolonialen Expert:innen und Vertreter:innen in hohen Verantwortungspositionen der Stadt-, Landes- und Bundesebene vermitteln soll.

Dabei haben sich für uns drei Leitforderungen herausgebildet:
Erstens soll sich mehr mit deutschen Kolonialverbrechen auseinandergesetzt werden. Dazu gehört auch die Rolle Deutschlands vor und während des Völkermords in Ruanda.

Zweitens müssen endlich die Forderungen der Betroffenen und Angehörigen von deutschen Kolonialverbrechen bei politischen Entscheidungen aufgenommen werden. Die Perspektiven von Betroffenen und Angehörigen sind bereichernd für die heutigen Diskussionen zur deutschen Innen- und Außenpolitik — auch in Hinblick auf das deutsche bzw. europäische Grenzregime in Afrika und gegenüber Menschen mit afrikanischer Migrationsgeschichte.

Die Expertisen der Postkolonial-Trainer:innen in unserem „Solidarity City Hildesheim“-Netzwerk sollten maßgeblich bei der Erarbeitung von Maßnahmen im Zusammenwirken mit Politiker:innen sein. Ohne diese Expertisen können zum Beispiel die Verflechtung von Kolonialverbrechen mit heutigen rassistischen Gesetzen oder die Ausgleichsforderungen durch Reparationen nicht verhandelt werden.

Drittens soll die Mittelbereitstellung für eine landes- und bundesweite Strukturförderung zur bildungspolitischen Aufarbeitung deutscher Kolonialverbrechen geprüft werden, um für eine größere Sichtbarkeit deutscher Genozide, Kriegsverbrechen und Raubzüge im Zentrum der deutschen Geschichtsschreibung in Lehrplänen zu sorgen.
Außerdem soll die Geschichte von Befreiungskämpfer:innen in Lehrplänen verankert werden. Als Beispiel nennen wir Anton Wilhelm Amo, der als erster afrodeutscher Philosoph unweit von Hildesheim in Wolfenbüttel wirkte.
Dessen Namen schlagen wir für die Umbenennung aller Nettelbeckstraßen in Deutschland mit Hinweisschild aus einem bundesweiten Fördertopf vor.

Neben einem Rassismus zu milde bestrafenden Justizsystem tragen auch verfassungsrechtlich bedenkliche Aussagen, wie die unten stehenden, dazu bei, dass – wie in Hildesheim geschehen, als 2020 ein 21-Jähriger mit einem Terror-Anschlag auf Muslime droht und freigesprochen wird, oder 2021, der Anschlag auf die Ditib-Moschee – Neonazis Menschen rassifizieren und zur Zielscheibe für rechtsextreme Anschläge machen.

“Wir werden uns gegen Zuwanderung in deutsche Sozialsysteme wehren – bis zur letzten Patrone.” Horst Seehofer, 2011

„Es ist doch klar, dass sich Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen wie aus der Türkei und arabischen Ländern insgesamt schwerer tun. Daraus ziehe ich auf jeden Fall den Schluss, dass wir keine zusätzliche Zuwanderung aus anderen Kulturkreisen brauchen.” Horst Seehofer, 2010

“Multikulti ist tot. Töter kann es gar nicht sein.” Horst Seehofer, 2010

„Der Islam gehört nicht zu Deutschland.” Horst Seehofer, 2018

„Ich bin froh über jeden, der bei uns in Deutschland straffällig wird und aus dem Ausland stammt. Auch der muss das Land verlassen.”
Horst Seehofer, 2018

„Migration ist die Mutter aller Probleme.” Horst Seehofer, 2018

(feixend) “Ausgerechnet an meinem 69. Geburtstag sind 69 – das war von mir nicht so bestellt – Personen nach Afghanistan zurückgeführt worden.”
Horst Seehofer, 2018

Rückblick:

7/6/2020, Tag des Zorns:
»Ich kann nicht atmen«

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Black Lives Matter Hildesheim & Migrantifa Hildesheim JETZT mit dem Theater „Die Falle“ von Riadh Ben Ammar, Mitbegründer des transnationalen Netzwerks afrique-europe-interact.

Forderungen:
„I can’t breathe”

Tribunal gegen rassistische Polizeigewalt & Behördenterror. Für Globale Gerechtigkeit. Hier geht es zur Dokumentation der #BLM-Demonstration und zum Maloja-Projekt.

Alles müssen wir selber machen. »Allein zu gehen, da bin ich schneller, aber gemeinsam, da gehen wir weiter.« Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir demonstrieren rücksichtsvoll und achtsam. Nach der Kundgebung zeigt uns Riadh das Ein-Personen-Theaterstück „Die Falle“ (Beschreibung unten). Warum wir protestieren:

1. Migration ist die Mutter aller Gesellschaften. Gegen koloniales Unrecht in Germany. Gegen rassistischen Terror, Behördenterror, Polizeigewalt, Grenzpolizisten in Hildesheim, Stade, Chemnitz, Menton, Paris, Nordamerika und überall. Hanau, das war deutsche Leitkultur!
​​​​2. Stop Deportation & 101 Jahre Abschiebehaft in Deutschland sind genug. Abolish Lager- und Ankerzentrumsystem! Wegen Euren rassistischen Gesetzen können wir schlecht Atmen! Residenzpflicht für migrantische Selbstorganisation abschaffen!
3. Solidarität mit allen Reisenden zweiter, dritter Klasse an den Grenzen. Auch in den Lagern Europas Moria, Bosnien, Türkei, Iran, Niger, Sudan … Unabhängige Visapolitics für Alle! Aufbau von Korridoren der Solidarität und Rasthäusern auf den Reiserouten!!! Build Solidarity Cities!
4. Solidarität mit der Gastarbeiter*innenbewegung. Für Selbstbestimmung von Menschen in der Sorgearbeit ohne deutschen Pass – besonders in prekären Zeiten. Menschen vor Papiere! Wir wollen das Studium und den Job statt nur des Praktikums!
5. Für migrantische Mitbestimmung bei der EU-Asyl-Rechtsreform 2020. Dies ist auch eine Mobi zur #IMK2020 von Jugendliche ohne Grenzen in Erfurt (17. bis 19. Juni). Schluss mit dem Konzept des globalen Lagersystems unter Federführung des Deutschen Innenministeriums. Wir fordern: Praktische Umverteilung der Grenztechnologie von Siemens, Airbus, ThyssenKrupp, Fraunhofer-Institut, Leonardo (Italien), … in Pädagogiken der Vielfalt und des Gemeinsamen!
6. Khartoum-Prozess am Horn von Afrika und Neokolonialismus der deutschen GIZ mit den Janjawid-Milizen lückenlos aufklären! EU-Better-Migrationsmanagement ist Push-Faktor! Neue Pakte der EU mit der Afrikanischen Union, wie das Continental Operational Center 2019 kritisch begleiten. Antirassistische Arbeit beginnt auch in Niger, das neben Gambia ein Labor für die EU ist, das Asylverfahren an afrikanische Staaten „auszulagern”.
Schluss mit der Schmuddel-Entwicklungshilfe für koloniale autokratische Militärgrenzen im Herzen afrikanischer Mobilität und Freizügigkeit!
7. Entnazifizierung in Polizei, Bundeswehr, Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst (BND), Justiz, Schulen und Universitäten. 75 Jahre nach der Befreiung hat die Bundesrepublik die Entnazifizierung verpasst! Ihr wollt eine Diskussion über Fluchtursachen? Entwaffnet Rheinmetall! Eure Waffen mit falschen Aufklebern finden wir überall.
8. Entnazifizierung der Hildesheimer Ausländerbehörde & rassistischen Wohnungsindustrie. Ihr wollt keine antirassistischen Workshops!? Dann machen wir Eure Arbeit eben. Ehrenamtlich! Basta.
9. Gerechtigkeit und Ernährungssouveränität für Indigous, Women and LGBTQI+, Ecofeminists, Interreligious im Sahel, Australien, Indien, Chile and over the World.
10. Bewegungsfreiheit und Zukunft für Alle! JETZT.

Nach der Kundgebung, Ort und Zeit wird bekanntgegeben:
Ein-Personen-Theaterstück von und mit Riadh Ben Ammar:
»Die Falle«: “Wir schlafen nur, wenn die Sonne aufgeht… dann sind wir sicher, dass die Vampire nicht mehr kommen”, so Momo, Bewohner einer Geflüchtetenunterkunft. Ein Theater von Tanger nach Pirna, über die geschlossene EU-Außengrenze und ihre Missverständnisse. Betrüger*innen? Dann lass uns darüber reden! Nicht “Welcome to stay”, sondern für #Bewegungsfreiheit. «

Aufruf von:
Black Lives Matter Hildesheim und Migrantifa Hildesheim, initiiert von NBNP.

Newsletter 2.2020 – Bordermonitoring italienisch-französische Grenze: Zeigen der Gewalt

Foto: Kesha Niya

Von unseren Freund:innen der Kesha Niya-Kitchen,
17. Dezember 2020


This is the situation at the border between Italy and France, where hundreds of people are hindered to cross the border and are left alone without basic care or visibility, furthermore welcomed with the violation of their right to move freely, regular violence by police officers and prejudices of the local habitants. All of this is happening for 5 years now – this is an update on the situation and our work shortly before Christmas 2020, during a Corona pandemic that doesn’t stop in front of vulnerable people on the streets. You are very welcome to share!

It is offical now: The procedure which french police has been following during the last years has been declared illegal. 
Since migration flows started to go trough Italy to France, the usual way to reject people by means of the French border police was to stop them from entering France, take them on the french side in trains, in the mountains or on the streets of the cities until 30 km after the border (Menton, Monaco, Nice,…) Then they are put in a “container” over night or for several hours during the day and finally sent back to Italy with the “refus d’entrée” (a paper just saying that entry is denied to this person). The Conseil d’Etat, the highest court in France, now decided on the 27th of november that this in fact is not following european laws, as the concerned border is an internal border of the Schengen countries, not external. This means that preventing people from crossing through this procedure (handing out a refus d’entrée without any further communication or the possibility to ask for asylum) has no legal ground, and never had. Since this day, we expected changes to appear in the way state forces are working and reacting – they did not. We started to collect photos of the “refus d’entrée” that people got since the court decided over the illegal status of these documents. They have not decreased or changed, and neither has the controls of people on their way. We are keeping track of this treatment, so that there will be proves for a legal action against the french border police in the future. 
If there will be consequences based on the court decision we will let you know. (https://www.conseil-etat.fr/…/arianeweb/CE/decision/…/428178)

And this is official now, too, concerning the activities of the french border police in this area: The denial of french and european rights which people should have in the “containers” (places to hold detained people at the french police station at the border) has been sanctioned. 
Everybody who is coming to our working spot at the border has been held for several hours during the day or the whole night (times ranging up to 24 hours, while it must not be more than 4 hours officially). The access to services they have the right to is ignored: food, drinks, medical care, toilets, translation, contact to their families and more. The containers are made out of metal and stone and have outside temperature.
Two french organisations, Anafe (legal support) and Medecins du monde (medical support), have been fighting to be allowed to enter the station. So far, this was denied. Now, on the 30th of november, the administrative court of Nice sanctioned this refusal by the prefecture of Nice. The prefecture has now 30 days to re-evaluate the allowance. In the past, there have been changes to hinder external people from entering, like declaring the container a “safe space”. We hope, Médécins du Monde and Anafé will be allowed to enter in the future and monitor the situation inside. We will give you an update in the beginning of January (http://www.anafe.org/spip.php?article584)

Both decisions empowered us in our work. There is legal ground now against the things that we are fighting, and it creates the possibility to make injustice, violation and violence more public and not just anonymous suffering. Of course, the one thing we learned here is the huge gap between theory and the practical methods. 
In theory, the decision by the Conseil d’Etat would mean that our group is not needed anymore and people should be able to cross the border and have a safer passage because their rights are respected. In practical aspects, this is not the case. 

Foto: Kesha Niya

Officially, the french border police PAF is not allowed to do what they do. 
They are not allowed to hold people for longer than 4 hours and are actually responsible by law to give food, water, medical aid when people are asking for it, the possibility to have a translation of every communication and any document they get, the possibility to contact a lawyer, the possibility to contact their relatives. Every single right of those is violated. 
But most of all, the european legal right to ask for asylum in a country the person arrived at is violated for every single person. People without documents (means a valid passport / permission to stay plus home country passport) do by law have the right to be informed about what is happening to them, why a police control is taking place, and to declare that they want to ask for asylum in France. Then, police would have to follow a procedure to contact an office of asylum and set up an appointment or a Skype talk for the person so that they can declare their asylum request.
They have any other right than being deliberated for as long as 10 – 30 hours in an empty container with a stone floor.
“They treat us like animals.” We could not count how many times we heard this phrase. 
Who explains the european and french laws to the french police and authorities?

We continue our work with the knowledge that slowly the humanitarian situation has to change and does, even if it is just the theory starting in this one case. If it is injustice, at least call it injustice. We will stay alert in the next time how we can support the action following this to take place, like keeping the refus d’entree handed out to people and continuing to take testimonies of what is happening in the “containers” of the french police station. Further down the article you can find in detail reports on the violent incidents these weeks. 

In general, we have seen a lot of new arrivals from other places in Italy. The evening food distribution in Ventimiglia, which is covered by other groups besides our day once a week, has seen between 200 and 260 people! The highest numbers that have been count this year and similarly, high numbers at our working place at the border. 

A lot of eyes are on Ventimiglia at the moment. For the first time since 2016, everybody who is stuck in Ventimiglia is facing a winter without accommodation, safe space, available food and medical help. Since the Red Cross Camp closed down in summer and has never been replaced, and as the mayor is not interested in creating such a space again, it is a precarious situation. Used sleeping possibilities in the Ventimiglia area are the sides of the road (hidden in bushes), the beach, space under bridges and empty houses. Naturally, small fires are made to get through the night at the beach, and rests of the wood brought by the storm are used. The fires are also necessary to dry clothes, as we have seen many rainy days. On three days in the last week, we managed to have a tour through Ventimiglia to check up on the situation of everybody living outside, talked a lot, gave some foods, drinks, coffee, tea, hygienic articles and especially took care of families / women on the streets by proposing to find accommodation. This tour gave a new perspective on Ventimiglia, as we were not just meeting people on the move but could also reach a lot that we may have met one time at the border and that are stuck in the city before trying again, as well as we could talk to people who just arrived at the train station to share information about support points in Ventimiglia (like the Caritas house and the food distribution).
Additionally, we are closer to the way police and other state forces are working in the city. This included random controls of exclusively non-european-looking persons. We also saw (for the first time) French police officers at the train station in front of trains in Ventimiglia. We don’t know the reasons for that yet. The French and Italian government declared to have a collective border unit in the future to enforce border controls and arrests.

During the last couple of weeks, members of Human Rights Watch, Medecins du monde, Amnesty International and grassroot organisations from other cities were visiting Ventimiglia to have an idea about the situation. Everybody agreed on the importance to improve life here. We will try to improve on networks to ensure things that are needed in places where they are needed, which is in Italy especially Ventimiglia at the moment. 
Still, there is no accommodation planned or a perspective for the near future, for as many people as there are. The only (always full) place is a family / women house organised by several associations of the region, where 15 persons can stay each night.
This is a huge help, but not enough at all. Also private hosting possibilities over night are at the edge and always used as best as we can.

Depending on our donations, we started bringing clothes to our “breakfast” at the border, and it can not be too much at the moment. Everything is gone really fast as people are left with wet clothes from the rainy days or are not well equiped for winter. On the bottom of the article, you’ll find a list of things that are always needed and we would be happy receiving from you! 

We continued our main work as usual, the “breakfast” from 9 a.m. to 8 p.m every day, one kilometer away from the border in direction Ventimiglia on the italian side. We are working in this small empty space now since summer and have been in another place (which was closed due to neighbours) since 2018. 
Everybody who is released from the french police station onto the italian side has to take the road to Ventimiglia, to where they were coming from, taking the train or walking through the mountains (the unsafe “passo della morte”). Naturally, coming back to Italy, they find our “breakfast spot” on the side of the road. We create access to food, drinks, hygienic articles, a small stock of clothes, medical first aid, a roof to protect from the rain. More importantly, it is a more peaceful place than the place they are coming from, we have talks and can share the general knowledge we have on the Ventimiglia area and some answers on struggles. 
We are helping with legal advice or redirecting to legal counselors for specific cases. Minors who have a prove of their age and a refus d’entrée have a right to not be denied in France and we can follow a procedure with a lawyer to get them back to the police and able to cross the border without being taken and pushed back. We see people with a running asylum process in France being pushed “back” as they are controlled based on racial profiling by the police and detained because one document was missing or they didn’t have it with them. For both cases, it is usual for the police to change details (like the minor’s date of birth on the refus d’entrée to make them older and push them back as “adults”) or take documents from people and destroy them in front of them, especially when people want to communicate with them, explain their situation and know which rights they have.

Following, our (quite accurate) numbers of people we counted at our « breakfast » between 9 a.m. and 8 p.m. :

Between the 27th of november and 2nd december :
610 people in total, of those 510 pushbacks from the police station and 100 coming from Ventimiglia or the area around.
Of those:
– 41 women
– 15 accompanied children
– 21 unaccompanied minors

Between the 3d and 9th of december :
741 people in total, of those 615 pusbacks and 126 coming from elsewhere.
Of those:
– 65 women
– 27 accompanied children
– 17 unaccompanied minors

Please bear in mind that we mostly meet people that we see several days in a row, as it takes between around 2 to 6 attempts to cross the border to France. So the actual number of individuals is definitely lower. 

These are the concrete incidents in contact with police that people decided to share with us or that we partially experienced:

27th nov : We go through a procedure with our voluntary lawyer to bring two minors to France (they had been illegaly pushed back) . Despite having the necessary documents to prove that the pushbacks were illegal, the french police says that “it is not enough ». The same boys report that they were taking a truck in the night before to get the France, but were arrested on the highway by italian police. At the police station, they are being told to lie down, and as one of them refuses, he is hold by 5 police officers and pushed to the ground. One is pulling him to the ground by holding and pulling his nose.

28th nov: We meet one man who has been taken and arrested at the french police station, though he is already an asylum seeker in France and was just visiting a friend in Italy. We accompany him back to the border and eventually he is allowed to go to France. 

30th nov: One man who is already an asylum seeker in France is taken and arrested. He shows his documents to the french police officers, who destroy all of them. +

The day before, 4 men with italian documents who are regularly working in France are being controlled in Nice in their company´s bus. They are taken to the police station in Nice and kept until 2pm. They report very bad conditions, have their phones taken away from them and photos and fingerprints taken. The 30th of november, they are taken in handcuffs to the border and are eventually pushed back. Three of them did not have all of the necessary documents with them personally, while one should have been allowed with the right documents.

1st dec : At night, three women get lost in the mountains and scream for help during this time. Some men try to cross, are taken by french police, report about the women as they heard them screaming. They ask for help for them. The police refuses to take any action and say that it will be okay. Eventually we welcome the three women the next day at our spot, as they found the right path with daylight. +

One man is travelling from Italy to Marseille, France, as his father is sick and staying in a hospital there. He wants to visit him. The man has a valid Passport, valid permission to stay, the necessary Covid documents and documents that prove that his father is in the hospital, so he can be sure to travel during Corona. He has everything that he needs to cross legally, but is taken in a train on the french side and taken to the french police station. The french police destroy the documents that prove that his father is in the hospital. Eventually, he is pushed back to Italy. We set him in contact with our lawyer. 

3d: We meet around 7 minors in the afternoon. We have been in contact with one of these minors. He has already tried 2 times and now the third time, being arrested by police again, he was clearly asking for his right for asylum as a person of under 18, trying to communicate to the police. As a reaction, apparently they beat him very bad. No one of this group of minors talks about their stay in the police station. One of the minors who was cheerful, relaxed and cooking with us the day before is now serious and doesn´t want to talk. We can not say what happened. +

One minor has a wrong name on his refus d´entrée, additionally to a wrong date of birth given by the french police. Due to this, we can not help him with the usual procedure to get him back to France.

4th dec : The day before, 11 men travelling together take the mountain path at night. When they are stopped by french military, one of them is frightened and falls down the steep side of the path. His friends are very worried and ask the military to check if their friend is safe. The military tells them that they will check on it the next day. They call the french police so that the men will be taken to the police station. The 10 men are resisting on checking up if their friend is okay, the military takes a photo of the place where it happened and of all of them, besides that they don´t want to take any further action. When the police car arrives, the men refuse to get inside and to leave without their friend. They are put into the police car by force, taken into the station and have no further possibility to inform somebody or talk to someone at the police station. Eventually they are pushed back to Italy the 4th of december and arrive at our « breakfast » spot, still very worried. We get the name, contact and photo of the missing friend to look out for him. Some time later they receive the news that their friend is safe. He hurt his leg but could find a way back and received help by people at the beginning of the path.

Just two months ago, one men (who was with two others while walking the mountain path) went missing. His friends saw him fall really deep and tried to alarm police in the french police station after they were arrested. They were not taking action. Just the next day, italian forces went to the mountains, but as the italian path part is short and mostly safe, they told us after two days of search « We are trying our best, but we think that we are searching in the wrong place. » Basically, if people have accidents, it is on the french side. In the cases that we saw, nobody was taking responsibility for the possible death of someone, not even trying to react in some way – the path is narrow, not stable or solid, and a lot of people take it at night without light. What does dying here mean? That nobody will ever know about it, mostly. If you are travelling alone or walking with people who barely know you, if the ones who could secure or safe you don´t show up and you go missing, you die anonymously. It is the same kind of invisibility that people experience through violence at the police station and in trains, where nobody is watching, and in places in the city where they find a spare space to sleep. They don´t really exist in public life. Until today, as far as we know, they never (searched and) found the body of the missing man from two months ago.

6th dec : Personal belongings of a man are stolen (we had communication problems with him and could not know more).

8th dec : We meet a pregnant woman and her aunt who left an italian camp because of bad living conditions, eg. they didnt get any food there. They were expulsed from the train here at the border by french police using tear gas (?) against them.

Later, another man tells us more about the incident: He had been in the train with several other people. French police entered the train in a city after the border. In a toilet, one pregnant woman and her two year old daughter, another woman, the reporting man and more people were hiding. Police commanded to open the door, but according to the man the door was blocked from outside. The police broke the door and used strong tear gas (?) against them. The man insisted on the fact that it was some sort of acid, not just “normal” tear gas and extremely painfull. The gas was put in the small toilet room without that anybody had the possibility to leave. This counts as well for the unborn baby, the small girl and their mother. The reporting man was shouting at the police officer: “You are not allowed to do that. You know that you are not allowed to. You can get charged for that.” One Italian Police officer answered by saying that he doesn’t speak english. Later, at the police station, the exact same officer was having a fluently spoken interview with the reporting man (personal information for the refus d’entrée). In english. Until this point in the police station, the man could not see because of the tear gas (?) / Acid, was coughing and had pain as the other people.
He was asking for medical care and got the answer to look for medical help in Italy after his push back. He got some drops of a liquid for his eyes. As we found a private hosting possibility, we could follow up on the man’s situation. He still had this tear gas (?) On his body and in his hair while showering and had problems breathing and coughing until the next day.

If you continued to read our article until now, we thank you for following the situation here at the french italian border. Although the struggle is ongoing, we keep our rage and our will to never lose sight of the people on their way through Europe.
You are always welcome to join us and live with us if you can commit to a time span of at least two weeks, or to give support through donations. 

Things that we will constantly need in the next time: hats, gloves, socks, scarfs, other clothes (contact for more details), tooth brushes and paste, old phones, sim cards that can be used in Europe (Leika for example), and fresh food donations (directly at the border if you live close). 

You are welcome to contact us and use these contact details, we will try to come back to you as fast as we can! 

Sending lots of warmth – the Kesha Niya Team

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Newsletter 1.2020 – Call for Help, Europäische Migrationspolitik im Tschad, WTM Alarmphone im Interview, Bericht: Refugee Protection in Germany 2020 und über die Fortsetzung deutschen Kolonialismus in Abschiebegefängnissen: Darf Zain al-Khatir bleiben?

Liebe Freundinnen und Freunde

Syrische Kriegsflüchtlinge kündigen an, am Sonntag (2.2.2020) aus ihrem Lager in Idlib zur türkischen Grenze zu maschieren. Sie schreiben, dass ihnen Assads Bomben keine Wahl ließen. Ihr Ziel ist Europa. Der Marsch steht unter dem Motto: „Von Idlib nach Berlin“.

In diesem Newsletter werfen wir einen Blick auf die (europäische) Migrationspolitik im Sahel, Mittelmeer, Deutschland, Niedersachsen und Hildesheim.

Zunächst in eigener Sache:

Datum wird noch bekanntgegeben
Unter einem Dach, Lilienstraße 16B, 30167 Hannover
Workshop zum Aktivwerden in der ZigZag Kitchen Brüssel und Kesha Niya Kitchen Ventimiglia

Was erwartet Dich?
– Auskunft über Situation in Brüssel und Ventimiglia
– Informationen zu Aufgabenbereichen und Strukturen Vorort
– Erfahrungsberichte von bereits Aktiven
– Offene Fragen- und Diskussionsrunde
– Möglichkeit der Koordination gemeinsamer An- und Abreise

Wir freuen uns auf Dich und Danke an alle bisher getätigten Spenden! Anmeldung unter: kitchen-workshop[at]posteo.de

Video: Besuch bei der selbstverwalteten „ZigZag-Küche“ in Brüssel, anf

Reportage über die europäische Migrationspolitik in Afrika. Dafür bekamen SWR2-Autor Martin Durm und Regisseurin Maidon Bader jetzt den renommierten Robert Geisendörfer Preis. 

Die Sahelzone gehört zu den ärmsten und gefährlichsten Regionen der Welt. Die Europäische Union scheint dennoch daran zu glauben, dieses chronische Krisengebiet stabilisieren zu können. So hat sie unter anderem ihre Unterstützung für eine afrikanische Truppe zur Terror- und Schleuserbekämpfung im Sahel verdoppelt. Und die EU leistet humanitäre Hilfe, vor allem im Grenzgebiet zwischen Tschad und Sudan.

Sendung von Martin Durm, 26.9.2019, SWR2

Alarmphone – Eine Nummer für Flüchtlinge in Seenot

Für in Seenot geratene Flüchtlinge gibt es eine Telefonnummer bei einer NGO. Aber lockt diese Hilfe nicht noch mehr Menschen auf den gefährlichen Seeweg?

Sendung von Vera Pache vom 28.1.2020, SWR2

Deutsche Zusammenfassung des Berichts »Refugee Protection in Germany«, Valeria Hänsel, Sabine Hess, Svenja Schurade, Januar 2020

Die vorgelegte Analyse »Refugee Protection in Germany« hat eine generelle Entwicklung des deutschen Asylsystems aufzeigen können, die darin besteht, dass Zugänge zum Asylrecht zunehmend beschränkt und Verfahrensrechte stark eingeschränkt werden. Dies führt zu einem differentiellen Ausschluss immer mehr Gruppen aus dem Geltungsbereich des asylrechtlich verankerten Schutzes; Grundsätzlich haben die Gesetzespakete seit 2015 errungene verfahrensrechtliche Schutzstandards massiv beeinträchtigt und abgebaut. Daher werden folgende Empfehlungen zur Verbesserung des Schutzes von Asylsuchenden gegeben:

Passend dazu: Was macht eine Stadt für alle aus? Ergebnisse aus dem Stadtlabor: Migration bewegt Göttingen

14. und 15. Februar 2020
Paulinerkirche im Historischen Gebäude der SUB (Papendiek 14, 37073 Göttingen)

Die europäische Flüchtlings- und Asylpolitik steckt in einer tiefen Krise. Dies haben zuletzt nicht nur die Debatten um die Seenotrettung gezeigt. Angesichts der Blockadehaltung auch vieler nationaler Regierungen sind es vermehrt Städte und Kommunen, die sich für pragmatische und liberale Lösungen einsetzen.

Auf dem Podium diskutiert Prof. Dr. Gesine Schwan (Humboldt-Viadrina Governance Platform, Berlin), mit Mike Schubert (Oberbürgermeister von Potsdam und bundesweiter Koordinator „Städte Sicherer Häfen“), Marion Bayer (Solidarity City Hanau) und Mehmet Tugcu (Stadtratsfraktion Bündnis 90/ Grüne Göttingen) unter der Moderation von Prof. Dr. Sabine Hess (Centre for Global Migration Studies, Universität Göttingen), welche Rolle Städte und Kommunen in der Migrationspolitik einnehmen (sollten). Welche Ansätze und Politikempfehlungen gibt es? Welchen Handlungsspielraum haben Stadtregierungen und -verwaltungen? Was können Graswurzelinitiativen wie Solidarity City für eine offene Stadtgesellschaft bewegen?

Das vorläufige Programm kann hier heruntergeladen werden.

Knast und Folter zur gewaltvollen Durchsetzung von Abschiebungen

Einblicke in den Abschiebeknast Büren (NRW) allias UfA1 Büren: Die skandalöse Abschiebung einer hochgradig suizidalen Person aus der Abschiebehaft in Büren (NRW) nach Marokko schlägt leider keine Aufmerksamkeitswellen. Viel zu sehr hat sich die brutale Abschiebepraxis der BRD schon in der Gesellschaft normalisiert. Dem wollen wir uns entschieden entgegenstellen. Als Freundinnen und Aktivistinnen standen wir während seines Knastaufenthalts und auch noch jetzt in engem Kontakt mit der betroffenen Person: Herr H. und seine Geschichte ist exemplarisch für eine menschenverachtende Abschiebepraxis, die psychische Erkrankungen bewusst ignoriert, durch Gewalt- und Zwangsmaßnahmen drastisch verschlimmert und damit das Leben von Menschen gefährdet.

Darf Zain al Khatir bleiben?, NDR 3.1.2020

Für das neue Jahr 2020 und darüber hinaus kann es nur mehr denn je heißen: Bewegungsfreiheit für Alle!

Wie wollen wir in Zukunft Migration gestalten und welche Rolle spielen dabei heutige Grenzziehungen? Dieser Frage gingen im Rahmen des Projekts „Zukunft für alle – gerecht. ökologisch. machbar“ 16 Vordenker*innen aus sozialen Bewegungen, Politik und Wissenschaft nach. Aus der gemeinsamen – mitunter kontroversen – Diskussion ist diese Vision entstanden:

Bewegungsfreiheit für alle!
Zukunftswerkstatt zum Thema Migration

Push-Back-Bericht: 648 Abschiebungen im November 2019 norditalienisch-französische Grenze

Hier geht es zum Bericht, der eine der größten gewaltsamen Abschiebungen dokumentiert: darunter auch Minderjährige, Frauen mit Kindern und Diabetes-Kranke.

Um Menschenrechts-Verletzungen weiter zu dokumentieren und unsere Arbeit fortführen zu können – die auch beinhaltet, gewaltfreie Pufferzonen in den Transitkorridoren zu errichten und die Berichte weiterhin kostenfrei zur Verfügung zu stellen – sind wir dringend auf finanzielle Unterstützung angewiesen.

Außerdem dokumentieren wir mittlerweile den Behördenterror in Hildesheim und darüber hinaus gegen Nicht-Geduldete und Dublin-Abgeschobene, die uns oftmals abgeschoben mit fließend sprechendem Deutsch an der norditalienisch-französischen Grenze begegnen.

Unterstützen können Sie uns entweder mit einer einmaligen Spende. Auch kleine Spenden helfen!

Spendenkonto:
Kontoinhaber: Verein für eine Schönere Willkommenskultur

IBAN: DE70290501010081690141

SWIFT/BIC-Code: SBREDE22XXX
Betreff: Kesha Niya

Kontakt: kesha-niya@riseup.net

Beitragsbild: © 2014 Michael Shorny, www.mangomoon.at), Illustration: petja dimitrova

Brüssel-Volunteer – We are constantly looking for volunteers that can commit for two weeks or more. Please get in touch!

Wir kochen! (November 2019)
Live-Blog aus Brüssel

Bericht aus dem November 2019 in Brüssel

drawing by petja dimitrova

Ein warmes Hallo aus einem kalten Brüssel.
Nun sind wir seit zwei Wochen im Kochbetrieb und unser Essen erfreut sich großer Beliebtheit im Park. Wir haben unsere Abläufe optimiert. Einmal die Woche kaufen wir nun ein und planen das Essen für die Woche vor.


Durch die Reflexion der zwei Wochen Dauerkochbetrieb haben wir uns entschieden, einen Tag weniger pro Woche zu kochen. So können wir uns um die Aufgaben kümmern, die wir sonst aus einem Mangel an Freiwilligen nicht schaffen sowie um auch uns mal ein Pause zu geben. Durch finanzielle Einbußen von 3000 Euro pro Monat ist ein weiteres Hindernis entstanden, was das Kochen an 5 Tagen die Woche zusätzlich erschwert. Daher der dringende Aufruf:

Wir brauchen Freiwillige, die uns unterstützen und Verantwortung übernehmen.
In der kalten Zeit ist es umso wichtiger Menschen in Notlagen zu helfen und Solidarität groß zu schreiben. Wir arbeiten gerade mit 5 – 8 Freiwilligen plus solidarischen Genoss_Innen aus Brüssel. Damit wir unsere Küche wieder auf 100 Prozent laufen lassen
können, brauchen wir ca. 12 Freiwillige, die für eine gewisse Zeit Verantwortung übernehmen möchten. Aufgaben, die es zu erledigen gilt, sind u. A.:
• Kochen
• Einkaufen
• Finanzmanagement
• Ausgabe von Essen
• Schnibbeln
• Putzen
• Revolution

drawing by petja dimitrova

Wenn du Zeit hast, komm vorbei. Spende deine Zeit und deine Solidarität. Wenn du Geld spenden möchtest, um uns zu unterstützen, dann kontaktiere uns doch per Mail:
zigzagkitchen(AT)posteo.org

Wir Freuen uns auf Dich.

Des Weiteren haben wir uns verstärkt um die Freiwilligenkommunikation in Brüssel gekümmert, um langfristig eine gute Kommunikation und Übergabe der Küche zu gewährleisten.
Wir schauen in eine spannende Zukunft in Brüssel. Schon jetzt können wir sicher sein, dass unser Kochkollektiv dringend notwendig ist. Vor allem in den nun bevorstehenden kalten Monaten.

Solidarische Grüße aus Brüssel. Eure Zig Zag Crew

Zusammengefasster Bericht aus dem Oktober 2019 in Brüssel

Vorweg sei gesagt, dass dieser Bericht ein wenig ausfuehrlicher ausfallen wird, wie die uebrigen sechs. Dies hat jedoch nichts mit den Dingen in Kurdistan und Halle zu tun, die uns hier momentan auch beschaeftigen! (WUT) Wir fangen ab dieser Woche unser “normales Tagesgeschaeft” an. Das bedeutet, dass wir euch einen Einblick geben wollen, was euch erwartet, solltet ihr uns hier vor Ort unterstuetzen wollen. Zudem wollen wir aber auch allen, die uns diese Aktion(en) durch div. Unterstuetzung ermoeglicht haben, einen Ueberblick ueber das verschaffen, was bisher alles passiert ist und wie es wohl weiterlaufen wird. Fangen wir mal mit einem kleinen Rueckblick an:
Als Mitte-Ende August die ersten Aktivistinnen nach Bruessel kamen, war die Lage im Park (Wir nennen die Orte an denen die Menschen sich aufhalten im Folgendem nur noch Park, da dort ein grossteil lebt/sich aufhaelt und dort die Versorgung zum grossen Teil stattfindet.) noch sehr unstrukturiert und kein Mensch konnte uns genauer erklaeren, wie die Lage eigentlich aussieht. Nach einem ersten Koordinierungstreffen zwischen den meisten Akteurinnen in und um den Park, kam die Idee auf, einen Kalender zu erstellen, um uns moeglichst einfach abzusprechen und natuerlich auch um (fuer uns) zu sehen, wann es Versorgungsluecken gibt. Mit sehr viel Arbeit in Form von Gespraechen und Beobachtungen im Park, konnten wir einen Kalender etablieren, der nach und nach besser genutzt wurde. Es gibt zwar noch Gruppen, die trotz eingetragener Termine nicht erscheinen, oder die statt der angegeben warmen, kalte Speisen ausgeben, doch alles in allem ist es ein nuetzliches Tool geworden.

Recht schnell wurde uns von allen beteiligten Menschen das Signal gegeben, dass wir mit unserer Idee, eine weitere Kueche in Bruessel aufmachen zu wollen, sehr richtig lagen.
Nachdem wir dann auf der Suche nach einem Ort fuer die Kueche auf ein grosses soziales Projekt gestossen sind, haben wir angefangen dort an der schon bestehenden Kueche zu arbeiten und uns mit den tollen Menschen des Projektes zu vernetzen. Ein gluecklicher Zufall hat uns dann jedoch auf ein anderen Ort gebracht, der in der Zukunft nicht Reaumungsgefaehrdet ist (so wie leider das soziale Projekt), da eine Gruppe von Antifaschistischen Menschen das Grundstueck gekauft hat, auf dem wir unsere Kueche nun errichtet haben.
Ab dem Moment haben wir fast jeden Tag dort verbracht, um den Ort aus dem nichts zu einer Kueche zu machen. Trotz der Verzoegerungen durch die viralen Infekte, das fehlen eines KFZ und durch die teilweise geringe Zahl an Aktivist*innen, konnten wir dennoch einen eindrucksvollen Platz errichten, in dem wir (so professionell wie sonst selten in unserem Kontext) fuer eine grosse Zahl Menschen kochen koennen.
Die ZIG ZAG KITCHEN ist geboren!

Neben der Unterstuetzung durch Aktivist*innen, die vor Ort mit angepackt haben, verdanken wir diese Kueche auch den Menschen, die uns aus Suedfrankreich und anderen Kontexten mit Geld, Kontakten oder guten Ratschlaegen supported haben.
DANKE!

Ein hoch auf die Antinationale Solidaritaet!

Soviel zu dem, was in den letzten neun Wochen so passiert ist. Wie sieht es nun aus und vor allem, wie geht es weiter?
Wir haben nun alles zusammen, was es braucht, die Menschen mit kraeftebringendem, leckeren Essen zu versorgen. Die Zig Zag Kueche steht, die Netzwerke stehen, die lokale Solidaritaet ist vielfaeltig und enorm, das Besteck ist organisiert, die Versorgung der Zutaten steht, dessen Finanzierung ebenfalls, das Auto ist endlich hier und wir haben gerade (noch) ausreichend Aktivist*innen mit Erfahrung und Motivation.

In Zukunft werden wir jeden Freitag mit dieser Gruppe die Kueche teilen, bis wir uns irgendwann ueberfluessig machen koennen und die Gruppe die Kueche freitags alleine nutzt.
Am Samstag haben wir zu sechst, mit Hilfe eines Aktivisten aus Frankreich 800 warme Mahlzeiten ausgeben koennen, am Sonntag etwas weniger. Die Toepfe waren jedes mal leer nach ca. ein bis zwei Stunden. Wir versuchen mehr zu kochen, jedoch sind langsam die Kapazitaeten der Toepfe erschoepft. Wir experimentieren nun noch ein wenig mit anderen Gerichten herum und geben auch vermehrt Beilagen (Toppings) aus. Der Wagen kommt zwar langsam an sein Zuladungslimit, aber der Platz reicht noch aus.

Wir hatten auch das erste mal einen Kuechentag, in dem auch die betroffenen Menschen selbst mit Schnibbeln. Wir haben sudanesische Aktivistinnen eingeladen, die momentan in einem Squat leben (500m von unserer Kueche entfernt) und denen aehnlich wie uns auch bald eine Raeumung droht. Vielleicht leben wir bald woanders zusammen. Wir werden sehen. Gestern Abend ist zudem noch eine Aktivistin angekommen, der/die uns in den naechsten Monaten unterstuetzen und auch kochen wird. Das ist ein guter Anfang, jedoch koennen wir nach wie vor noch mehr Menschen vor Ort gebrauchen. Morgen ist erst einmal der letzte Kochtag bis zum Freitag. Wir werden die dazwischenliegenden Tage nutzen, um zu reflektieren, den Boden fertig zu stellen und um die Erfahrungen der letzten Tage zum verbessern der Ablaeufe zu zu verwenden. Kurdische und libanesische Aktivistinnen, die uns heute im Park geholfen haben, werden uns morgen in der Kueche helfen.

Da wir versuchen, die (Wissens-)Hierarchien in der Gruppe so gering wie moeglich zu halten, waere es dringend notwendig, dass wir mehr Aktivist*innen vor Ort sind, die lernen wollen, wie fuer ca. 800 Menschen Essen zubereitet wird. Gleichzeitig ist es enorm wichtig, dass Menschen in unserer Gruppe sich um finanzielle Aspekte kuemmern, dass nun
vorhandene Auto im Blick zu behalten, den Kontakt zu anderen Gruppen zu pflegen oder einfach nur dafuer zu sorgen, dass Berichte geschrieben werden etc… Diese Aufgabenbereiche sollen in Zukunft regelmaessig wechseln, um keine Menschen unsersetzlich zu machen und so fuer einen langfristigen funktionierenden Kuechenbetrieb zu sorgen.
Wir organisieren uns selbst und sind komplett unabhaengig. Das ist gut so und damit es auch so bleibt sind wir dringend auf eure Unterstuetzung angewiesen. Wir sind momentan gerade genug Menschen, um die anfallenden Aufgaben zu bewaeltigen. Es gibt unter uns jedoch auch Menschen, die nach einer sehr langen Zeit in Bruessel mal wieder neue Energie sammeln muessen oder die im Winter ihren Aktionsschwerpunkt auf die Unterbringung von Menschen verlegen wollen. Wenn ihr euch also vorstellen koennt, fuer einen kurzen oder laengeren Zeitraum zu schauen, ob euch unser Projekt gefaellt, dann meldet euch bei uns. Wir verstaendigen uns uebrigends in englischer Sprache, koennen aber auch fuer Uebersetzungen sorgen. Wenn ihr euch unsicher seid oder Fragen habt, fuehlt euch frei uns eine E-Mail zu schreiben.

15.11.2019, Veranstaltung mit Zain Al-Khatir im »Stadtlabor: Migration Bewegt Göttingen« und Ermittlung gegen Leitung der libyschen Küstenwache

Buchgespräch mit Zain-Alabidin Al-Khatir: »Ums Überleben kämpfen« 

In seiner Autobiographie dokumentiert Zain-Alabidin Al-Khatir seine Flucht aus dem Sudan über Libyen bis nach Deutschland. In einem Buchgespräch schildert er nicht nur persönliche Erlebnisse, sondern gibt hochaktuelle Einblicke in die Grenzpolitiken Nordafrikas.

In Kooperation mit der Seebrücke Göttingen und Netzwerk NoBorder. NoProblem Hildesheim., Literarisches Zentrum Göttingen und Stadtlabor: Migration bewegt Göttingen

Zeit: 15. November 2019, 19:00 Uhr
Ort: Stadtlabor, Schildweg 1, 37085 Göttingen

Mehr zu diesem Thema & Weiterlesen:

Italienische Staatsanwaltschaft ermittelt gegen italienische Leitung der libyschen Küstenwache, 3.11.2019

Zain Al-Khatir bei der Eröffnung von Carola Racketes Buch-Präsentation: »Ich weiß gar nicht, wer mich gerettet hat, aber ich sage: Danke. Ich wäre sonst nicht am Leben«, 30.10.2019

Klima-Imperialismus? – Klimakrise, Migrationen, Arabellion, 27.10.2019

Newsletter 3.2019 – Grenzregime in Ungarn, auf der Balkanroute, in Bulgarien, der Türkei und in Italien

In der neunten Ausgabe unseres Newsletters fassen wir, wie gewohnt, den aktuellen Stand des Grenzregimes in Ungarn, auf der Balkanroute, in Bulgarien, der Türkei und in Italien zusammen. Zuallerallererst werden wir in diesem Newsletter jedoch näher auf ein Phänomen eingehen, welches bisher – zumindest im deutschsprachigen Raum – noch weitestgehend unbekannt ist: Bootsflüchtlinge im Kanal zwischen Frankreich und England.

Bordermonitoring.eu versteht seine Aufgabe darin, aktuell und zeitnah von den Grenzen Europas zu berichten. Seit mehreren Jahren tun wir dies schon in Form von längeren Berichten und kürzeren Artikeln auf unserer Webseite. Der Newsletter ist Teil dieser selbstgesetzten Aufgabe.

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