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SQUAT / Erfahrungen einer*s Aktivist*in aus Nordfrankreich

Dieser Text wurde von einem autonomen Aktivsten geschrieben und schildert ausschließlich seine individuelle Perspektive.

Ein ehemaliges Elektrizitätswerkkurz hinter dem Bahnhof von Caen in der Normandie wird derzeit von Menschen verschiedenster Nationalitäten bewohnt. In vier Gebäuden, die auf dem weitläufigen Gelände verteilt stehen, findet der Alltag von Familien und Einzelpersonenstatt, die im aktuellen gesellschaftlichen Diskurs als „Flüchtlinge“ zusammengefasst werden. Ich, deutsch, männlich, lebe auch nun seit fünf Wochenhier im Squat. Er existiert seit letztem April und beherbergt etwa 200Menschen. In Caen gibt es noch sieben weitere Squats, die größtenteils selbstorganisiert funktionieren und  dievon Geflüchteten bewohnt werden.

Ein Squat ist im Grunde nichts anderes als ein besetztes Haus, sprich ein ungenutztes Gebäude, welches im Zuge einer Besetzung nutzbar gemacht wird. Der Nutzen kann je nach Eigenschaften des Gebäudes variieren und so u.A. Ausstellungsort, Fußballplatz, Skatepark, Bürooder (temporär) Zuhause sein. Da dieses Gebäude Waschräume und WCs, viele Einzelzimmer und Küchen bietet, so also die Mindestanforderungen für Lebensraum erfüllt und leer stand, wurde er von derAssemblé Génerale de lutte contre tout les expulsions (Generalversammlung fürden Kampf gegen alle Räumungen, kurz: AG) besetzt. In Frankreich wird es denHausbesetzer*innen de jure dadurch vereinfacht, dass eine Haubesetzung innerhalb von 48 Stunden geräumt werden muss. Ist dies nicht der Fall, muss gerichtlich die Zukunft des Hauses erstritten werden und bis ein Prozess erstmal startet, kann einige Zeit vergehen.

Besagte AG ist eine französische Gruppe bestehend aus Menschen verschiedenster politischer Hintergründe, die das Ziel eint, Geflüchtete unterstützen zu wollen. Der aktivistische und zumeistlinksradikale Teil öffnet, der andere Teil verwaltet die Gebäude anschließend. Final sollen die Häuser dann selbstorganisiert, den Geflüchteten überlassen ohne die AG weiter bestehen. Im Weiteren wird noch auf diese Gruppe eingegangen.

Die Menschen, die hier wohnenwollen, müssen vorher mehrfach die 115 angerufen haben; das ist eine frankreichweite Telefonnummer, unter der man sich melden kann, wenn man keine Bleibe für die Nacht hat. Dort muss man mehrfach Absagen bekommen, dann kann man in den Squats schlafen.

Ich lebe zusammen mit meinen Freund*innen im Gebäude A, links vom Eingangstor. Davor ein kleiner Garten mit Kompost. Wenn ich aus unserem Raum, ganz oben in der zweiten Etage nach unten hinausgehe höre ich das lebendige Treiben, die drei Waschmaschinen laufen ständig, die Kinder kindern, Menschen begrüßen mich je nach Bekanntheitsgrad ganz unterschiedlich. Am Freeshop, wo heute schon gekochter Reis in Plastiktüten drin liegt und dem merkwürdigen, durchgesuppten Loch an der Decke,den Waschräumen gehe ich vorbei und dann stehe ich draußen. An manchen Tagen ist das Wetter noch richtig freundlich, sodass die Kinder Fußball, Basketball oder irgendwas spielen, herum streunern oder schaukeln und manchmal Anschwung brauchen.

In der Community Kitchen, die derzeit von uns als Ort zum Arbeiten, Kochen und Sein verwendet wird, malen sie oder wollen beim Gemüse Schneiden helfen. Einige von ihnen sprechen französisch und fragen mich auch nach wie vor manche Dinge auf dieser Sprache, obwohl ich schon so oft gesagt habe, dass ich´s nicht verstehe. Mit den ganz Kleinen verständige ich mich zumindest durch Zunge raus strecken, auskitzeln und „Arrêt“. Wenn sie schon mal in Deutschland waren, sprechen einige der Kindersogar Deutsch. Es ist beeindruckend wie leicht es ihnen scheint Sprachen zu lernen.

Natürlich sprechen Alle hier verschiedene Sprachen. Arabisch, Albanisch, Französisch, Englisch und welche, die ich nicht kenne. Leider verstehe ich nur Englisch. Zwar sprechen einige der Bewohner*innen ebenso Englisch, weshalb wir uns gut unterhalten können, dieSprachbarriere bleibt aber natürlich bestehen. Dies ist sehr schade, denn alle Menschen hier haben sehr viel Spannendes zu berichten und tun dies glücklicherweise manchmal ohne Umschweife in einem Mix aus sämtlichen Sprachen und vielen Gesten. Es ist sehr interessant und lehrreich von meinen Freund*innen aus Nigeria oder dem Sudan Geschichten aus deren Heimat, „wie es dort soläuft“, erzählt zu bekommen und zu verstehen wie vielfältig die Lebensrealitäten sein können. Ich bekomme ständig gezeigt wie naiv es wäre meine eigene Lebensrealität als Ausgangspunkt einer Weltbetrachtung zu nehmen und daraufhin Schlüsse zu ziehen. Nichtsdestotrotz kann das Aufeinanderprallen der ganzen Geschichten Ursache für Konflikte sein, vor allem dann, wenn wie hier der Lebensraum geteilt wird. Menschen mit unterschiedlichsten Erfahrungen, Sozialisierungsformen, Sprachen, Verhaltensweisen, Problemen und so weiter leben hier zusammen.

Ein Teil der Arbeit hier ist definitiv die Betreuung der Kinder, die wir abends um acht aus der Küche schicken, weil sie am nächsten Tag zur Schule gehen. Zudem machen wir hier rundum den Squat kleinere Arbeiten, wie unseren cleaning day einmal pro Woche. Unser Hauptaugenmerk richtet sich jedoch eher auf die Arbeit in Ouistreham. Dies ist ein Ort mit Hafen, von wo aus täglich Fähren nach Portsmouth ablegen. Etwa 150 Geflüchtete, zumeist aus dem Sudan, leben deshalb auf den Straßen dieses Orts, um immer wieder ihr Glück zu versuchen. Auf einem kleinen Parkplatz bieten wir daher vier Mal pro Woche Frühstück, Duschen, Tee und eineHandyaufladestation an. Es ist erschreckend zu hören, unter welchen Umständendie Menschen dort teils seit Monaten leben müssen, abseits der Polizeigewalt und Witterung, der nun ansehenden Wintermonate. Spenden in Form von alten Smartphones, warmer Kleidung und Decken helfen auf jeden Fall sehr.

Um das Frühstück ausgewogen und abwechslungsreich zu gestalten, brauchen wir verschiedene Spenden. Viel kommt von außerhalb, aus den Bäckereien, die ihre Ware nicht vollständig losgeworden sind oder aus einem Supermarkt, zu dem wir morgens gelegentlich fahren und nicht mehr ganz frisches Obst und Gemüse abholen können. Zusätzlich gehen wir mehrmals pro Woche containern. Das bedeutet, dass wir nach Ladenschluss zu Supermärkten fahren, von denen wir wissen, dass in ihren Abfalleimern, die gut zugänglich hinter den Läden stehen, noch gutes, aber schon entsorgtes Essen zu finden ist. Hierbei starren mich manchmal wahre Schätze aus den Tiefen der Mülltonnen an: Asterix Comics, lustige Perücken, tausende Jelly Bellys, Unmengen an Obst und Gemüse, einmal hatten wir 100 Liter Milch, Tüten voller Gebäck und zum krönenden Abschluss Bier! Dies nehmen wir uns mit, reinigen es und konsumieren es entweder selbst, legen es in den Freeshop im Squat oder können es sogar in Ouistreham verteilen. Die verschiedenen Quellen gewährleisten kostengünstigen und ausreichenden Zugang zu Essen, sodass wir in Ouistreham Brot mit verschiedenen, selbstgemachten Aufstrichen oder Sweetrice mit Kokos und zusätzlich fast immer irgendein Obst und ein paar Kekse anbieten können.

All dies planen und besprechen wir in unseren Meetings, die wir zwei Mal pro Woche abhalten. Die Meetings sind relativ kurz und aushaltbar, weil die Gruppe zwischen drei und sechs Leute groß ist. Die Größe der Gruppe ist abhängig von Krankheiten und Urlauben, die man nicht versäumen sollte sich zwischendurch zu genehmigen. Denn obwohl wir versuchen hierarchiefrei zu arbeiten, ergeben sich Mechanismen und Abhängigkeiten, die ermüdend und erst durch zwischenzeitliche Distanzierung erkennbar sind. Zudem stellt sich schnell ein Alltag mit bekannten Abläufen ein, die einige Zeit zu verlassen, wohltut. Insgesamt bietet der Squat zunächst Sicherheit und Unterschlupf, was gerade für Familien mit Kindern sehr wichtig ist.

Dieses Privileg sollte man sehr zu schätzen wissen. Viele der Menschen hier haben ohne Papiere und Geld nicht einfach die Möglichkeit eine Auszeit zu nehmen. Wenn ich selbst merke, was mich hier stört und daraufhin sauer werde, vergegenwärtige ich mir, dass ich als einer der Wenigen hier, nach einer geplanten, bestimmten Zeit einfach in mein Zuhause in Deutschland aufbrechen kann, wo es eine Dusche und ein Klo gibt, die ich mir nicht mit vielen anderen teilen muss, wo ich meine Familie sehen kann, wo ich eine Perspektive auf Arbeit und sichere Existenz habe. Wenn ich dann reflektiere, dass ich mich gerade über ein ungeputztes Klo echauffiert habe, entlarvt das lediglich wie gut es mir eigentlich geht. In der Tat ist die Hygienesituation für Alle ein Problem. Für die etwa 200 Squatbewohner*innen gibt es in den vier Gebäuden insgesamt etwa 20 Toiletten und 10 Duschen, von denen durch natürlichen Verschleiß noch etwa 10 Toiletten und 5 Duschen nutzbar sind, was schnell unangenehm sein kann, besonders wenn man bedenkt, dass der Squat für einige das aktuelle Zuhause ist. Die Meisten versuchen demnach die Hygieneräume sauber zu halten, aber für bestimmte Klempner*innenarbeiten bedarf es neben dem entsprechenden Equipment, Kompetenz und Zeit. Es steht sogar Geld für den Squat zur Verfügung, welches durch die AG – die Gruppe, die die Squats begleitet – verwaltet und über welches in deren Meetings gesprochen wird. Problematisch ist hierbei jedoch, dass die Meetings, die als offen und für Alle zugänglich gelabelt sind, ausnahmslos auf Französisch sowie teilweise in für Migrant*innen unzugänglichen Räumen, nämlich dem AG Büro, welches durch einen Code versperrt ist, abgehalten werden. Also nichts mit Partizipation. Das ist natürlich völlig absurd, wenn man bedenkt, dass das Geld gespendet wurde, um Migrant*innen zu helfen. Doch statt sie in die Meetings einzubinden, sie zu fragen, was für Bedürfnisse sie eigentlich haben, wird über ihre Köpfe hinweg über Geld entschieden, als könnten allein Weiße die Welt retten. Auf Nachfrage, warum die Meetings in diesem exklusiven Rahmen abgehalten würden, heißt es z.B. die Migrant*innen hätten kein Interesse an Politik. Nun gut. Hier wird der Rassismus in Verallgemeinerung und Unterstellung offensichtlich, den auch eine eigentlich linke Gruppe in sich zu tragen scheint. Es wäre jedoch falsch zu behaupten in der AG regte sich kein Widerstand dagegen, sodass die „militants“ (hat nichts mit Steine schmeißen zu tun, ist wohl die übliche Bezeichnung für „Aktivistis“ auf Französisch). Einen bezeichnenden Moment habe ich beim Festival hier erlebt. Die AG veranstaltete am 5. und 6. Oktober ein Festival bei dem u.a. ein Theaterstück aufgeführt wurde, in dem ausschließlich französisch sprechende Weiße gespielt haben, auf einem Boot auf dem Mittelmeer zu sitzen. Einer der Bewohner und Freund von mir, von dem ich wusste, dass auch er kein französisch spricht, guckt mich an und sagt: No compris und geht, ich hinterher. Das ganze Festival wurde ohne Refugees durchgeführt. Sie wurden nicht eingeladen Barschichten zu übernehmen, noch auf die Bühne zu gehen und ihre Perspektive zu beschreiben. Das Festival war eine schöne Idee, nur nicht für die Bewohner*innen. Letztendlich haben wir angeboten, für das Festival zu kochen und Alle zur Planung und zum Kochen eingeladen. Als ich auf vegane Küche bestand und so aufzählen musste, was ich alles nicht esse, erinnerte mich die Reaktion von Tamara an die meiner Oma.

Eines Nachts werden wir geweckt. Eine Familie, die in Caen lebt, soll abgeschoben werden. Fünfzehn Minuten später sitzen eine Freundin und ich im Auto, wir fahren zu dem Hotel, wo die Familie derzeit untergebracht ist. Wir wissen nicht, was passieren wird, sind aufgeregt. Als wir ankommen treffen wir einige der Aktivistis, die wir aus dem Squat kennen und gesellen uns zu ihnen. Wir stehen ein bisschen blöd daneben, weil wir sie nicht verstehen können und albern rum, dabei ist mir flau im Magen. Sternenklarer Nachthimmel über uns. Wir gehen in die Bar des Hotels, wo drei Cops stehen und Kaffee trinken. Wir stellen uns in einigem Abstand davon auf und beobachten sie, angespannt. Nach einer halben Stunde ist es soweit, die Polizisten passieren unsere Gruppe, um durch den Hinterausgang zur Tür der Familie zu gehen. Alle hinterher. Glücklicherweise darf die Polizei die Wohnung nicht betreten. Die Familie sich jedoch nicht wiedersetzen, sonst riskieren sie drei Jahre Gefängnis. Dann ganz viel Gerede, ich verstehe kein Wort. Als der eine den Versuch macht näher an die Tür zu kommen, fange ich an zu filmen. Die Polizei im Einsatz zu filmen, ist legal. Er schleudert herum und greift in Richtung meines Handys. Sofort stellen sich zwei Leute schützend vor mich, es eskaliert zum Glück nicht, aber die Stimmung ist angespannt. Nach weiterem Wortwechsel ziehen sie irgendwann ab. Wir helfen Hab und Gut aus dem Zimmer in einen Sprinter zu räumen, der die Familie an einen „sicheren Ort“ bringen soll. Langsam wird es echt kalt. Ich bin glücklich, dass alles so ruhig verlaufen ist und wir fahren heim.

Wenn wir abends, sobald die Kinder den Platz geräumt haben, die Frisbee oder den Fußball auspacken, später reingehen, reden, Karten oder Ludo spielen, Bier trinken, sind wir einfach Freund*innen, die im Schein der Lampe vergessen, was sie hier hat zusammenkommen lassen. Für mich sind das die schönsten Momente, in denen die Unterschiede und der Frust über die Situation verschwunden zu sein scheinen. Frustration ist ein Gefühl, in dem sich Resignation und Wut vermischen, so fühlt sie sich zumindest für mich an. Und selbstverständlich zieht sie nicht spurlos an Menschen vorbei. So gibt es hier leider Fälle von Alkoholabhängigkeit, Depression oder Psychosen. Umgang damit zu haben, kann sehr aufreibend sein, sie zu unterstützen, sich zu unterhalten jedoch motivierend. Es sollte nicht unerwähnt bleiben, dass auch der Squat leider kein Raum frei von Sexismus, Nationalismus oder Rassismus ist. Einer meiner Freunde wurde aufgrund seiner Hautfarbe beleidigt und Frauen* erzählen manchmal davon, dass sie angebaggert werden oder es fällt einer dieser „… ist für Mädchen/Frauen“ – Sprüche. Anders als es einige gern auslegen, wäre es aber schlichtweg falsch solch ein Verhalten Allen zu unterstellen, zumal die Opfer dessen andere Squatbewohner*innen sind.

An unserem letzten Abend sitzen wir um die Feuertonne, in der aus Zwecken der Luftzufuhr und Dekoration das „A“ im Herzen eingeritzt ist. Einige essen noch die Überbleibsel, es wird getrunken, geraucht, gesungen und gelacht. Die Stimmung ist gut. Es laufen im Wechsel Lieder, die sich im Laufe der Zeit zu unserer Musik etabliert haben und die wir deshalb gemeinsam singen können und Songs in den verschiedenen Sprachen, zu denen die entsprechenden Personen ihre Performance zum Besten geben. Es werden uns drei Karten zugesteckt, auf denen kleine Botschaften oder Dankesgrüße zu lesen sind. Ich bin ein bisschen gerührt.

Hier im verregneten Deutschlandsehe ich einzelne Bilder noch deutlich vor mir, kann mir die Stimmen, dieGeräusche ins Gedächtnis rufen. Ich sitze in unserer Küche und rede mit meinerWG über die Uni und dass unsere Küche mal wieder aufgeräumt werden müsste. Wennmich Leute fragen, erzähle ich von den verschiedenen Leuten, auf die ichgetroffen bin, die ich kennenlernen konnte. Mit jeder neuen Bekanntschaft habeich am meisten eigentlich über mich selbst und meine Verortung in der Weltgelernt und bin immer wieder an Punkte gekommen, an denen ich mich mit Leutenidentifizieren konnte. Ich bin erschöpft und habe mein eigenes Zimmergebraucht, aber ich werde wieder hinfahren. Uns wurde schon eine Ankunftspartyversprochen – natürlich mit veganem Essen.

Der*Die Autor*in zieht es aus Gründen der Kriminalisierung vor Anonym zu bleiben.

Dezember 2018: Molly in Ventimiglia

Mit dem Molly Bus sind autonome Aktivist*innen derzeit wieder um Ventimiglia aktiv, deren Texte wir freundlicherweise veröffentlichen dürfen. Sie stehen hier zum Download bereit:

Bericht 11   01.12.18

Bericht 12   13.12.18

28. September 2018: Zum Ende der (unabhängigen) Seenotrettung an der libyschen Mittelmeerküste.

Trotz Untersuchungen des UNHCR (Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen) und sogar erwiesenen Kenntnissen der Bundesrepublik Deutschland, betreffend gewalttätiger Verfahren der libyschen Küstenwache und fahrlässigen Unterbringen in libyschen Geflüchteten Unterkünften, hält letztere dennoch weiterhin fest an der Zusammenarbeit mit dem Land. Dabei versucht sie ihre eigenen
Kenntnisse von den in libyschen Geflüchtetendlagern stattfindenden Menschenrechtsverletzungen und die von der libyschen Küstenwache begangenen Vergehen zu
verschweigen „aus Gründen des Staatswohls (…), da eine Offenlegung für die Sicherheit und die Interessen der Bundesrepublik Deutschland nachteilig sein kann.“ So die Antwort des Bundestages auf die Anfrage von Monitor. Ein Ausschnitt der Sendung Monitor, dem dieses Zitat entnommen ist, gibt einen kurzen Einblick in die Seenotrettungssituation vor Libyen: Hier klicken.

Sommer/Herbst 2018: Molly in Caen

Eine Gruppe autonomer Aktivist*innen hat sich Anfang August an die nordfranzösische Küste aufgemacht. Nach einem kurzen Aufenhalt in Dünkirchen,  war die Gruppe über drei Monaten nahe der nordfranzösischen Stadt Caen (Normandie) aktiv. Die Berichte dieser Gruppe, die wir mit freundlicher Genehmigung veröffentlichen dürfen, stehen in diesem Beitrag zum Download bereit:

Eingefangen von einem Aktivisten im Squat 5 Rue du Marais in Caen.

Downloads:
Bericht 1 09.082018

Bericht 2 19.08.2018

Bericht 3 28.08.2018

Bericht 4  05.09.2018

Bericht 5 11.09.2018

Bericht 6 18.09.2018

Bericht 7 01.10.2018

Bericht 8 09.10.2018

Bericht 9 17.10.2018

Bericht 10 09.11.2018

 

18. April 2018: Eilmeldung – Zwangsräumung unter der Autobahnbrücke in Ventimiglia

Seit heute morgen findet unter der Autobahnbrücke, die in den letzten Monaten für viele Menschen auf der Flucht ein Zufluchtsort war, eine Zwangsräumung statt.

Unter der vierspurigen Brücke, nahe dem Fluss „Roya“ und dem Industriegebiet der Küstenstatt, leben derzeit Menschen auf der Flucht  in äußerst prekären Zuständen. Besonders während der strengen Wintermonate waren die dort aufgestellten Zelte und die einfallsreich gezimmerten Hütten der einzige Schutz vor Kälte und Witterung. Nun wird den Menschen auch dieser Schutz genommen.

Die Polizeipräsenz unter und um die Brücke ist an diesem Morgen enorm hoch. Sowohl in Uniformen, als auch in Zivil, unterstützt durch ein großes Aufgebot von Fahrzeugen und Helikoptern, setzen die Beamt*innen die Räumung durch.

Die städtische Regierung rückt mit Schaufelbaggern und LKWs mit großen Krallen gegen Hütten und Zelte vor. Die Bagger reisen alles ein und was gestern noch ein einigermaßen sicherer Rückzugsort für die Menschen war, wird heute in großen Bauschuttcontainern auf den Rücken von lärmenden LKWs abtransportiert.

Unsere Aktivist*innen vor Ort konnten beobachteten, wie beinahe ein Zelt mit einer schlafenden Person von den Bagger mitgerissen wurde. Bisher wurde aber noch keine direkte, physische Gewalt dokumentiert.  Seit gestern sind zudem viele Kamerateams in Ventimiglia, davon viele aus dem Ausland, wie aus Frankreich oder Spanien.

Für die Menschen auf der Flucht, die nicht in das Rote Kreuz Camp gehen wollen, da die dortigen Registrierungsmaßnahmen unmittelbaren Einfluss auf bestehende Aufnahmeverfahren haben, gibt es nach der Räumung ihrer Hütten und Zelte, keinen geschützten Ort mehr, wohin sie gehen könnten. Die Polizei und Bagger werden dafür sorgen, dass bis zum Ende des Tages der gesamte Bereich unter der Brücke geräumt wird. Morgen wird es keine Anzeichen mehr dafür geben, dass bis zum heutigen Morgen  Menschen unter der Brücke gelebt haben.

 

18. März 2018: Erfahrungsbericht eines Freiwilligen

Sonne. Wir fahren auf den Parkplatz an einigen Polizeiautos vorbei. Einige der Polizist*innen stehen davor und tippen auf ihren Handys herum oder rauchen. Unser Blick streift sie nur flüchtig, denn wir wenden uns schnell dem Geschehen hinter der Mauer, vor dem ein „betreten Verboten“ Schild steht zu, passieren diese und stehen unter einer Brücke; die Autos, die darüber fahren klingen wie ein fernes Rauschen.
Unsere Gruppe teilt sich auf, denn es stehen verschiedene Arbeiten an. Ich zünde mir eine Zigarette an und schaue mich um. Auf den steinernen Grund stehen Zelte in verschiedenen Farben, manche sind mit Decken umschlungen zu kleinen Häuschen geworden, die gemütlich aussehen und mich ein bisschen an die Zeit erinnern, in der ich als Kind draußen schlafen wollte und das ein großes Abenteuer war. Und auch jetzt muss ich zugeben, dass es sich nicht komplett real anfühlt dort zu stehen in dem Wissen, dass hier Menschen leben. Trotzdem weiß ich was zu tun ist, nehme mir ein paar Einweghandschuhe, ein paar Arbeitshandschuhe, ein paar Müllsäcke und gehe an den Hang, der zum Fluss führt und vor lauter verschiedener Klamotten und Plastik ganz bunt ist. Auf meinem Weg begrüße ich ein paar Leute, mit manchen unterhalte ich mich auf Englisch, manche können ein wenig Deutsch und mir wurden hier ein paar Worte arabisch beigebracht. Kefek? Tamam. Es geht um verschiedenes: das Wetter, die Sprache, Handys, Schuhe, Fußball, die Flucht bisher und wie sie weitergeht. Germany bueno. No bueno?
Wir bemühen uns und spielen unbekümmert. Lachen viel, rauchen und essen gemeinsam. Und doch wären wir alle sicher gern woanders als unter einer Autobahnbrücke in Ventimiglia, Italien, dessen Sonnenuntergang am Strand stehend so ein schönes Panorama bietet, doch mit der Dämmerung setzt auch die Kälte ein, die mich an die Nacht in meinem Zelt in Frankreich erinnert. Dahin fahren wir Abends zurück. An den Grenzkontrollen, die nach einem kurzen Blick auf unseren blauen Skoda mit Bielefelder Kennzeichen einen Blick in unser Auto werfen, weiße Hautfarbe sehen und uns mit einem kurzen „Okay.“ durchwinken vorbei. Ein ums andere Mal sprechen wir über die Möglichkeit jemanden im Kofferraum oder der Dachbox versteckt über die Grenze zu helfen, doch bei Aussicht auf fünf Jahre Gefängnis verläuft sich die Ernsthaftigkeit dieses Gespräches wieder gefolgt von einem kollektiven Shitstorm auf ein geheimnisvolles System, das wir vage als „den Kapitalismus“ betiteln.
Wenn ich den nach Urin stinkenden Müll in eine Plastiktüte stecke, frage ich mich, was sinnvolle Arbeit ist. Alles, was wir unten in Ventimiglia machen ist nichts als minimalste Schadensbegrenzung. Einige Menschen schaffen es nach Frankreich und hoffentlich in ein besseres Leben, aber es werden neue Menschen kommen. Manche von ihnen waren schon in Ventimiglia, wurden bei spontanen Räumungsaktionen der Polizei in einen Reisebus in den Süden nach Taranto gebracht und stehen einige Zeit später wieder genau an der selben Stelle. Manche kennen sich noch gar nicht aus. Wenn wir sie Abends beim Monitoring im Bahnhof treffen sagen wir ihnen, dass sie unter der Brücke oder im Roten Kreuz Camp schlafen können. Ins Rote Kreuz Camp durften wir nicht eintreten ohne uns registrieren zu lassen, aber aus Erzählungen haben wir gehört, dass die Bedingungen dort nicht besser seien. Minderjährige Frauen ohne Begleitung werden dort nicht aufgenommen, es sei eine zu große Verantwortung. Die Geflüchteten müssen, um dort Schutz finden zu dürfen, Fingerabdrücke abgeben, die sie auch nach gelungener Flucht noch sechs Monate an Italien binden würden. So lange bleiben die Abdrücke gespeichert und ein Land wie Deutschland könnte sie sich auf Dublin berufend nach Italien zurück abschieben. Die Menschen, die Deutsch sprechen, haben häufig für einige Zeit in Deutschland gelebt, bevor sie durch dieses Verfahren wieder am Bahnhof von Ventimiglia gestrandet sind und es von neuem versuchen werden.
So ziehen sie zum Teil mit ihren Kindern unter die Brücke und schlagen dort ihre Zelte auf, wenn sie welche haben oder andere Geflüchtete ihre zur Verfügung stellen. Ihre provisorischen Lebensmittelpunkte bezeugen wie wenig Interesse besteht, lange an diesem Ort zu bleiben. Ein Freund von mir hat erzählt, wie er gesehen hat, dass einem anderen Geflüchteten von einem Cop fünf Mal ins Gesicht geschlagen wurde, doch der zeitliche Aufwand ein Gerichtsverfahren einzuleiten wäre zu intensiv, schließlich will er in ein paar Tagen wieder versuchen über die Grenze zu kommen und das hinter sich zu lassen. Wenn nicht Druck durch das Erfahren staatlicher Ablehnung, kommt er aus den Strukturen unter der Brücke selbst, denn überall, wo Menschen schutzlos sind, kann sich besonders gut an diesen bereichert werden. Keine Polizei, die sich für sie einsetzen würde, wenn sie durch Mafiastrukturen bestohlen und gedemütigt werden. Kein Geld, das sie legal verdienen könnten, denn es gibt keine Arbeit, die sie ausüben dürfen.
Aus meiner Perspektive eines Menschen, der all das wann er mag hinter sich lassen und nach Hause fahren kann, ist es kaum zu erahnen, was Menschen in solchen Situationen tun müssen, um dem Leben unter der Brücke zu entkommen. Noch weniger steht es mir zu darüber zu urteilen, weil mein Bauch voll ist und ich alles werden kann, was ich will.
„So many young people are here. They have dreams.“ sagt mein Freund zu mir und ich kann nur dumm nicken.
Ich kann nur vermuten, wie sich das Leben unter der Brücke wirklich anfühlt, nur vermuten, was für den Traum einer Arbeit nachgehen und der Familie Geld nach Hause schicken zu können, aufgegeben werden muss.
Diese Vermutungen belasten mich emotional, weil die Refugees, die diese betreffen, keine Pixel im Fernseher sind, sondern Gesichter, Namen und Geschichten.
Ich fahre in drei Tagen zurück nach Hause. Das sage ich meinem Freund und beiße mir auf die Zunge.

2. März 2018: Bericht einer Aktivistin über Ventimiglia

Der Ort in Ventimiglia, an dem sich für uns alle am meisten abspielt, ist die Autobahnbrücke. Unter der Brücke leben zeitweise bis zu 300 Menschen. Jeden Tag kommen neue an, bis in die Nacht. In der Nähe des Ortes gibt es auch das Rote-Kreuz-Camp. Während der eisig kalten Tage konnten Frauen und Kinder ohne Identitätsnachweis in das Camp, für gewöhnlich müssen aber Fingerabdrücke abgegeben werden und die Ankommenden dürfen nicht weiterreisen. Deshalb ziehen viele es vor, selbst bei Minusgraden und Schnee unter der Brücke zu bleiben.
Vor allem in diesen kalten Tagen besteht eine unserer täglichen Aufgaben darin, Feuerholz zu verteilen. Wir arbeiten dabei mit dem Infopoint (mehr dazu unter „über uns“) zusammen. Der Infopoint lagert das Holz auch, aufgrund von Ressourcenmangel kann es allerdings nur drei Mal am Tag zur Brücke gefahren und ausgegeben werden, was deutlich zu wenig ist. Außerdem stellen wir Decken, Schlafsäcke und Kleidung zur Verfügung. Vor allem Schuhe sind zur Zeit sehr gefragt. Wegen der ständigen Nässe gibt es kaum Möglichkeit, sich trocken zu halten. Viele der Ankommenden tragen nur dünne Schuhe, wenn überhaupt, wir sehen auch immer wieder Personen mit Flip Flops und Socken. Weiterhin kocht ein Teil unserer Gruppe zusammen mit der Kesha Niya-Küche und gibt das Essen ein Mal täglich an der Brücke aus.
Freitag hat es den ganzen Tag geregnet. Auch die Essensausgabe fand zuerst im Regen statt, jedoch nicht wie sonst neben der Brücke, sondern vor einer nahegelegenen Kirche. Aufgrund der andauernden Kälte und Eis kam die Kesha Niya-Küche (mehr dazu unter „über uns“) nicht nach Ventimiglia. Deshalb hat Caritas zugesagt, das Essen vorzubereiten. Doch eine Stunde vor der Essensausgabe teilte die Organisation mit, dass sie das Essen doch nicht vorbereiten könnte. Zum Glück konnte noch jemand anderes fürs Kochen einspringen und so wurde das Essen doch noch vor der Kirche verteilt. Völlig unerwartet für uns standen vier nationale Kamerateams vor der Kirche, die über die aktuelle Lage berichten wollten. Die Zuständigen der Kirche wollten die Menschen während des Regens zunächst nicht reinlassen. Nach einem Gespräch einer unserer Aktivistinnen mit dem Pfarrer wurde das Gebäude doch noch zum Essen geöffnet, nach einer Stunde wurden jedoch alle wieder in die Eiseskälte zurückgeschickt.

1. März 2018: Ein kurzer Lagebericht von einer Aktivistin

Einige aus der Gruppe sind seit dem Wochenende durchgängig in Ventimiglia. Wir sind gerade noch rechtzeitig runter gekommen, doch kommen wir nun nicht mehr zurück zu unserer Unterkunft (Camp), denn der Weg zurück zu unserem Camp ist durch das Eis unmöglich zu bewältigen. Im Camp sind die Leitungen zugefroren, sodass es kein fließendes Wasser mehr gibt. Der Schnee muss geschmolzen werden, um Wasser zum trinken oder abwaschen zu haben.
Wir in Ventimiglia schlafen im Auto. Ich friere durchgängig, obwohl ich zwei Isomatten, zwei Schlafsäcke und zwei Decken habe. Ich will mir gar nicht zu lebhaft vorstellen, was wäre, wenn ich nicht meine guten Klamotten und Ausrüstung hätte.

Seit einigen Stunden hat der Schnee wieder begonnen, die Temperaturen sinken weiter. Hier in der Stadt sind verschiedene Helfende aus den unterschiedlichsten Ländern. Wir versuchen, uns alle irgendwie gemeinsam zu organisieren, denn die Lage ist sehr kritisch.
Gerade sind wir viel damit beschäftigt, Holz zu verteilen, damit die Menschen, die unter der Brücke schlafen, Feuer machen können, um nicht zu erfrieren oder sich bleibende Verletzungen der Kälte zu holen. Außerdem geben wir Klamotten und Hygieneartikel aus, organisieren Essensausgaben (für die meisten die einzige Mahlzeit am Tag und endlich auch was Warmes), reden mit den Menschen und versuchen sie abzulenken. Wir geben Tee, Schuhe, Decken und Schlafsäcke aus, eben was gerade am dringendsten gebraucht wird.

Deswegen freuen uns sehr über Spenden, diese können wir hier sehr gut gebrauchen und einsetzen! Auch, um so etwas wie W-Lan Zugang weiterhin anbieten zu können, damit die Menschen ihre Familien und Freund_innen kontaktieren können. In erster Linie aber für überlebenswichtige Sachen wie Schlafsäcke, Handschuhe, Mützen und vieles mehr!
Wir hoffen, dass das Wetter am Wochenende wieder milder wird, damit sich die Lage hier ein bisschen entspannt. In jeden Fall habe ich mir die Frage, ob meine Anwesenheit vor Ort hier sinnvoll und produktiv ist, schnell und eindeutig mit JA beantworten können!

 

28. Februar 2018: Schnee und eisige Kälte in Ventimiglia stellen Geflüchtete und Freiwillige vor große Herausforderung

Schnee und Eis bedecken derzeit ganz Nordeuropa. Eisige Temperaturen fegen auch über Norditalien. Doch während sich die meisten Menschen am Ende des Tages vor der Kälte in ein warmes Zuhause flüchten können, gibt es auch Menschen, die draußen bleiben müssen.

So auch in Ventimiglia. In der Küstenstadt leben derzeit bis zu 300 Menschen auf der Flucht unter einer Autobahnbrücke, manche in Zelten, andere auf dem blanken Boden. Die Temperaturen fallen hier aktuell in der Nacht auf – 6 Grad. Die Menschen können in dieser Kälte bestenfalls auf Schlafsäcke und Decken hoffen. Diese sind allerdings nicht zahlreich genug vorhanden – um Geldspenden wird daher dringend gebeten, um diese überlebenswichtigen Dinge besorgen zu können!

Für die Freiwilligen vor Ort, die wir unterstützen, bedeutet der Schnee und die eisige Kälte eine große Herausforderung: Neben den täglich anfallenden Aufgaben wie Tee und Essen kochen und Kleidung ausgeben, versuchen die Freiwilligen zu verhindern, dass die Zelte unter dem Schnee zusammenbrechen. Es wird Feuerholz gesammelt, geschnitten und verteilt, die Helfer versuchen Zelte, Schlafsäcke und Decken zu organisieren, damit sich die Menschen unter der Brücke die eiskalten Nächte überstehen.

 

Zur aktuellen Lage in Ventimiglia:

 

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